Eine ehemalige Pflegefachperson Psychiatrie erzählt, Teil 1: Strukturen und ein beispielhafter Dienstablauf

Was ist eine Klinik, wer arbeitet dort – ein Perspektivenwechsel

cof

Lieblingsgetränk: Unterschiedlich; zum Zeitpunkt dieses Gesprächs aber Apfelsaft

[V. ist seit einiger Zeit pensioniert und war das letzte Mal vor zwei Jahren in der Klinik, in der er über 30 Jahre arbeitete. V. möchte betonen, dass dies hier seine Sichtweise und seine Erfahrungen sind – und die mögen an anderen Orten anders ausfallen.]

Von verschiedenen Stationen und Abteilungen: Wie eine Klinik im Grundsatz aussieht (oder aussehen könnte)

In der Klinik, in der ich arbeitete, gab es rund hundert, in Stationen unterteilte Betten. Es war ein übersichtlicher und familiärer Betrieb und die meisten Patient*innen kannten sich untereinander. Die Betten waren in freundliche, moderne Einer- und Zweierzimmer unterteilt und hatten nebst zeitgemässen sanitären Einrichtungen beispielsweise auch Internetanschluss innerhalb der Zimmer. Wenn ich das mit früher vergleiche, dann sind das Welten: Toiletten und Duschen waren da zum Beispiel in grossen, unfreundlichen Sälen mit 10 Betten und ohne Schutz der Privatsphäre untergebracht gewesen. Das hat sich definitiv wesentlich verändert.

Die einzelnen Stationen waren nun entweder offen, schliessbar oder geschlossen. Abhängig von der Krankheit und Behandlung des Patienten* bzw. der Patientin* wurde entschieden, auf welche Station dieser bzw. diese gelangt. In der geschlossenen Station wurden Personen mit akuter Selbst- oder Fremdgefährdung, solche, die an einer akuten Psychose litten, oder aber Menschen, die abhängig waren von Suchtmitteln sowie psychogeriatrische Patient*innen behandelt. Im offenen Bereich wurden beispielsweise, solange nicht andere triftigere Gründe für eine Verschiebung auf eine andere Station vorlagen, Depressionen und Angstzustände behandelt und Kriseninterventionen vorgenommen. Die schliessbare Station war im Gegensatz zur offenen zwar grundsätzlich geschlossen, wurde aber täglich für Therapiebesuche und vereinbarte Ausgänge geöffnet. Hier behandelte man meistens diejenigen Personen, die in der geschlossenen Abteilung auf eine bestimmte Therapie angesprochen oder den Bezug zur Realität wiedergefunden hatten.

Früher gab es innerhalb der Station noch eine Trennung von Männern und Frauen. Das war vor rund 30 Jahren noch üblich. Heutzutage kann man sich das fast gar nicht mehr vorstellen. Ich habe die Aufhebung dieser Trennung noch miterlebt. Es ist eindrücklich, welch grosse Bedenken manche besonders der älteren Pflegefachpersonen bezüglich dieser Öffnung damals hatten. Diese Bedenken haben sich letzten Endes aber nicht bestätigt. Im Gegenteil: Ich würde sagen, dass sich insgesamt alles sehr entspannt hat.

Auf den einzelnen Stationen gab es nun es allgemeine Aufenthaltsräume, Räume für Schüler, Computerräume, Räume für Rapporte und Aufnahmegespräche, Pflege- und Arztbüros, sogar einen Fitnessraum, eine Bibliothek, eine Cafeteria und eine Ruheoase. Auch hier bestehen grosse Unterschiede zu früher: Heutzutage kann man in der Cafeteria essen, früher konnte man vielleicht gerade einmal einen Kaffee an einem Automaten rauslassen. Was ich mit diesem Vergleich sagen will: Heutzutage ist wirklich eine zeitgemässe Struktur vorhanden, mit der man so einen Betrieb auf einem guten Standard leiten kann.

In der Klinik, in der ich gearbeitet habe, gab es darüber hinaus auch eine Tagesklinik, in welcher jemanden eine Tagesstruktur gegeben werden und welche somit als Sprungbrett zwischen stationärem Aufenthalt und Entlassung dienen konnte. Betroffene lernten so, wieder mehr Verantwortung zu übernehmen. Daneben gab es auch eine Notkrisenambulanz, bei der man sich in akuten Fällen direkt für ein Erstgespräch mit einer Beratung und vielleicht auch für ein Medikament melden konnte und welche Betroffene dann gegebenenfalls weiterleitete. Auch ein Ambulatorium, welches zur regelmässigen Kontrolle und für Befindlichkeitsgespräche sowie zur allfälligen Abgabe oder Verabreichung eines (Depo-)Medikaments diente, war der Klinik angegliedert.

Der Betrieb «Klinik»: Personelle Strukturen

Eine Klinik ist grundsätzlich eine Art von Betrieb wie jeder anderer. In ihr gibt es Pfleger*innen, Ärzt*innen, Psycholog*innen, Spezialtherapeut*innen – beispielsweise für Kunst- oder Ergotherapien – Seelsorger*innen, eine Sozialberatung, einen technischen Dienst, eine Hauswirtschaft und eine Küche sowie eine Verwaltung.  Generell sind alle in der Klinik Tätigen entweder ausgebildet oder befinden sich in Ausbildung. Das ist nicht mehr so wie früher, wo es teilweise Angestellte gab, die manchmal da, manchmal dort etwas erledigten. Unausgebildetes Hilfspersonal in dem Sinne gibt es also nicht mehr.

Vermehrt müssen ausserdem auch Dolmetscher eingesetzt werden. Häufig betreute ich Betroffene aus fremden Kulturen beziehungsweise Personen, die bloss Fremdsprachen beherrschten. Eine klare Verständigung ist da natürlich eine Grundvoraussetzung für eine adäquate Betreuung.

Vielseitige Arbeit: Aufgabenbereiche und Kompetenzen von Ärzten und Pflegefachpersonen

Die Ärzteschaft entscheidet grundsätzlich über den Eintritt oder Austritt einer Person und führt Eintrittsgespräche in Begleitung des Bezugspflegepersonals. Sie bestimmt auch die Stationszugehörigkeit. Des Weiteren erstellen sie Körper- und Psychostatus bei Eintretenden und verordnen (Spezial-)Therapien. Sie sind es auch, die allgemeine Kontrollen und Medikamente verordnen oder Ausgänge bewilligen. Nicht zuletzt dürfen die Ärzt*innen auch eine fürsorgerische Unterbringung einer Person anordnen. Letzteres kann durchaus zu heiklen Situationen führen.

Das Pflegepersonal unterstützt Patient*innen in den Aktivitäten des alltäglichen Lebens wie der Körperpflege, der Kleidung, beim Essen und Trinken, wenn es um Ruhe und Schlaf oder aber auch um das Thema Sinnfindung geht. Sie begleiten die Patient*innen darüber hinaus auch durch das für jede*n Patienten bzw. Patientin individuelle Wochenprogramm, das fixe Zeiten für Mahlzeiten, morgendliche Treffs, therapeutische Aktivitäten und anderes enthält. Des Weiteren führen sie auch verschiedene Aktivitäten wie beispielsweise kleinere Ausflüge durch. Nebst diesen Aufgaben übernimmt das Pflegepersonal auch kleinere medizinische Arbeiten wie Blutentnahmen, führt Vitalzeichenkontrolle durch oder das steckt Infusionen und gibt die von den Ärzt*innen verschriebenen Medikamente ab.

Wegweisend ist das Pflegepersonal bei Rapporten, Standortgesprächen und Chefarztvisiten, da sie dauernd in Beziehung mit den Betroffenen stehen und Veränderungen im Krankheitsverlauf wahrnehmen können. Die Bezugspflege erstellt zusammen mit dem*/der* Pflegeempfänger*in schliesslich auch eine Pflegeplanung. Diese beinhaltet 1-2 wohldefinierte Probleme sowie Ressourcen, eine Pflegediagnose, ein Pflegeziel, anzubringende Massnahmen und einen Pflegebericht. In letzterem wird festgehalten, wie die vereinbarten Massnahmen wirken. Jedes Ziel, das gestellt wird, muss letztlich relevant, messbar und erreichbar sein. Diese Dokumentation ist von hoher Wichtigkeit und könnte auch rechtlich genutzt werden.

Sowohl diese Ziele, Ressourcen usw. als auch die täglichen Leistungen wie Vitalzeichenkontrolle, Blutentnahmen oder kurze Gespräche müssen jeweils in der pflegerischen Leistungserfassung eingetragen werden.

Die Pflegefachperson – ein beispielhafter Dienstablauf auf offener Station aus der Sicht von V.:

Der Frühdienst beginnt mit einem Übergaberapport, dem Einlesen in die Planung und einer Arbeitsverteilung im Pflegeteam. Patient*innen werden geweckt und häufig finden Laborproben, Vitalzeichenkontrollen etc. statt.  Danach werden die von der Nachtwache gerichteten Medikamente von zwei Pflegefachpersonen kontrolliert.

Im Anschluss nehmen die Patient*innen ihr Frühstück ein.       Die zur Behandlung der meisten Patient*innen gehörenden Medikamente werden nach dem Frühstück einzeln im Büro abgegeben und mit einigen führt man dabei ein Kurzgespräch oder plant eines.

Anschliessend findet ein „Morgentreff“ mit allen stationären Patient*innen statt. Dieser wird von einer Pflegefachperson geleitet und dauert ca. 20 – 30 Minuten. Das Ziel dabei ist es, den Tag gleichzeitig und gemeinsam mit einem Thema (Fragespiel, Gedächtnistraining, aktuelles Thema etc.) zu beginnen und Kontakte und Beziehungen untereinander zu fördern. Parallel zum Morgentreff findet auch ein Ärzterapport statt und zuletzt wird ein Morgenspaziergang angeboten.

Heute sind zwei Eintritte gemeldet: Ein Ersteintitt und ein Wiedereintritt. Der Ersteintritt kommt in Begleitung einer Freundin. Zunächst führt nun der zuständige Arzt mit dem*/der* Eintretenden* ein Erstgespräch. Mit dabei sind die zuständige Bezugspflegeperson und die Freundin. Hier schildert der* oder die* Betroffene seine* bzw. ihre* Sorgen und wird dabei durch Fragen unterstützt. Wertvoll sind aber auch die Erfahrungen der Freundin. Der zuständige Fallarzt schlägt schliesslich eine dreiwöchige stationäre Behandlung auf offener Station vor, womit sich die betroffene Person einverstanden erklärt.

Der Arzt erhebt anschliessend einen Psychostatus und verordnet Spezialtherapien und Medikamente in Reserve bei Schlafstörungen. Für die Bezugspflege ist hier für die Dauer der Behandlung wichtig, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, zu halten und bei Ausritt wieder beenden zu können.

Der*/ die* Patient*in wird nach dem Gespräch dann durch die Station geführt und es werden ihm*/ ihr* die allgemeinen Regeln erklärt. Wir vereinbaren danach für den Nachmittag ein erstes Bezugspflegefachgespräch, um gemeinsam ein Pflegeziel zu definieren. Weitere administrative Arbeiten bezüglich des Eintritts füllen den Rest des Morgens aus.

Nach dem Mittagessen evaluiere ich zwei Pflegeplanungen und führe ein weiteres Bezugspflegegespräch, was wir bei Sonnenschein auf einem Einzelspaziergang machen. Im Laufe des Nachmittags finde ich schliesslich eine Möglichkeit für eine kurze Spielgruppe, an der die Patienten teilnehmen können.

Plötzlich kommt ein Personennotruf von einer geschlossenen Station rein, d.h., eine andere Station benötigt sofort Hilfe. Ich halte also kurz Absprache darüber, wer die Station hütet, während der Rest des Pflegeteams sogleich rennt. Der Notfall: Ein Patient mit massiven Angstzuständen hat eine Pflegefachperson angegriffen. Die Situation kann aber zum Glück schliesslich sanft entschärft werden.

Nach diesem Notruf schreibe ich den Pflegeverlauf meiner Bezugspatient*innen ein und rapportiere dem Folgedienst das Nötigste, ehe ich meine Schicht beende.

Und dann, ja dann geht man nach Hause und trinkt einen Kaffee [lacht].

Exkurs zum Thema Therapien: Wieso das Arbeiten mit den Körper so wirksam sein kann

«Handlungen haben mehr Heilungserfolg als Gespräche, denn Gespräche können falsch verstanden werden», hat einmal ein italienischer Psychiater gesagt. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich diese Aussage eigentlich bestätigen.

Je nach Zielsetzung sind unterschiedliche Therapieformen angebracht. Nebst der Psychotherapie tragen Bewegungs- Ergo- und Kunsttherapie einen wesentlichen Beitrag zum Behandlungserfolg bei. In der Kunsttherapie ist das Ziel, die inneren und äusseren Bilder eines Menschen aus ihm hervorzubringen und sichtbar zu machen. Dazu bedient man sich zum Beispiel der Malerei oder arbeitet mit Stein oder Ton. Ganz wichtig ist hier, dass so die Sinnesorgane besser gereizt werden; der Fokus fliesst weg vom inneren Tumult und auf die äussere Wahrnehmung. Kunsttherapie kann auch dabei helfen, Geduld und Kreativität zu stärken und eigene Kraftquellen in sich zu entdecken.

Ich persönlich finde Bewegung auch einen sehr wichtigen Aspekt einer Therapie. Heutzutage sitzt man primär am Computer und tippt nur noch den ganzen Tag auf einer Tastatur. Man benutzt nur noch den Kopf. Die Bewegungstherapie kann hierbei helfen, den Fokus umzulenken. Bewegung hilft einem, zu entspannen und zur Ruhe zu kommen sowie den eigenen Rhythmus zu finden. Ich würde auch sagen, dass sowohl Bewegung als auch das handwerkliche Arbeiten helfen können, vielleicht wieder mehr den Sinn zu sehen, wenn dieser verloren gegangen ist.

Man kommt quasi wieder etwas auf den Boden zurück:

Man wird geerdeter; im Kopf und im Inneren.

 

Bleibt dran für den zweiten Beitrag, wo V. über die schönen und traurigen Seiten des Klinikalltags spricht, über die Belastung und Ansprüche an das Pflege- und Ärztepersonal, über Vorurteile, die er zurückweisen und solche, die er bestätigen kann und erfahrt unter anderem seine Meinung zum Problem der Stigmatisierung in einem dialogischen Gespräch.

 

Veröffentlicht von

ginamesserli

philosophy student @ university of Zürich, wannabe vegan, coffee and tea lover and knowbetter, so basically your average philosophy student.

2 Gedanken zu „Eine ehemalige Pflegefachperson Psychiatrie erzählt, Teil 1: Strukturen und ein beispielhafter Dienstablauf“

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