„Ich bin so dankbar, dass ich rechtzeitig den Entschluss fassen konnte, nochmals neu zu beginnen“

Oder: Wie ich die Leere zu füllen lernte

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Lieblingsgetränk: Heisse Schokolade mit Sojamilch

Ich stand vor dem blassen Fenstersims. Um mich herum muss es noch relativ still gewesen sein; womöglich hatte ich wieder einmal eine Prüfung verfrüht abgegeben und war dem stickigen Klassenzimmer als erste entflohen. Entflohen war ich vielem in den letzten Wochen: den drückenden schulischen Verpflichtungen, den besorgten Blicken der Mitschüler, den vielen Fragen meiner Eltern. Was wusste ich denn auf all dieses schon zu antworten?

Mein Notizbuch lag vor mir. Hier, in einem Korridor des Gymnasiums, schrieb ich:[1]

Er sagte nichts.

Aus seinen Augen

Floh das Licht

Man kann behaupten

Seit Beginn war er schon tot.

 

Aus dem Gesicht

Schwand das Vertraute

Es entwich

Der letzte Glaube

An ein Wunder, doch nicht Gott.

Schon als Kind spürte ich immer wieder die Last einer inneren Leere. Alles erschien mir in diesen Momenten sinnlos und langweilig. Dieses Gefühl verstärkte sich im Laufe der Zeit. Auf der Suche nach Identifikation und Aufmerksamkeit gewann ich eine Faszination für die «Emo»-Szene, Punk- und Hardrock-Musik, sodass schwarze Kleidung und Schminke fortan mein Markenzeichen waren. Im Alter von zwölf Jahren ritzte ich mich zum ersten Mal, wahrscheinlich mehr aus Sehnsucht, weil ich das Bedürfnis hatte, dieses Loch in mir zu füllen und «jemand zu sein».

Während der Oberstufenzeit und dem ersten Jahr am Gymnasium tat ich dies zwar nicht mehr, doch ich steigerte mich weiter in düstere Gedanken, fühlte mich einsam, weil meine Altersgenossen mein Grübeln und Hinterfragen nicht nachvollziehen konnten. Es gab kurze Momente, in denen Ängste aufkamen, tiefe Ängste vor dieser Finsternis, die sich auf alles gelegt hatte.

Seit meiner frühen Kindheit glaubte ich an Gott, doch während dieser Zeit hatte ich mich von Ihm entfernt – die Musik und mein Image als «Rebellin» waren mir wichtiger geworden. Dennoch wuchs gerade in diesen Jahren – ich war fünfzehn – das Verlangen, nach Ihm zu suchen. Ich hatte viele Fragen und suchte nach einer Gelegenheit, sie zu stellen. Diese fand ich in einer christlichen Facebookgruppe. Ihre Mitglieder stammten grösstenteils aus Freikirchen in Deutschland oder Österreich. Schon nach kurzer Zeit stellte ich fest: Diese Menschen hatten, wonach ich suchte. Sie hatten einen authentischen Glauben, lebten ihn mit ganzem Herzen. Im Gespräch mit diesen Leuten entschied ich, mich Gott verstärkt zuzuwenden.

Doch die Last der Depression verschwand nicht durch diesen Entschluss. Vielmehr befand ich mich nun im ständigen Kampf. Auf der einen Seite wollte ich neu beginnen und Gott kennenlernen – auf der anderen Seite zogen mich Suizidgedanken weg von ihm. Ich erlebte tiefe Erfüllung beim Bibellesen und fühlte mich in meinem Leid angesprochen, gerade von Texten wie Psalm 55 – auf der anderen Seite war ich süchtig geworden nach dem vorübergehenden Trost einer blutenden Wunde, die ich mir selbst zufügte.

«Ergibst du dich!»,

höhnts immer lauter

es senkte sich

erschöpft das Haupte

und gab sich hin der schweren Not.

 

«Erhöre mich!

Und lass mich laufen

Zieh mit dicht

Zu deinem Hause

– aus dieser Hölle führ mich fort!»

Ich wusste, dass ich dringend weg wollte aus dieser Lage. Überall, wo ich war, begleitete mich der Konflikt: die quälende Leere und meine Verstrickung in sie gegen den Wunsch nach einem Neuanfang.

An einem Nachmittag war ich sehr kurz davor, alles aufzugeben, auch das Leben selbst. Ich bin so dankbar, dass ich jedoch rechtzeitig den Entschluss fassen konnte, nochmals neu zu beginnen. Nach einem langen Gespräch mit meiner damaligen besten Freundin, welche auch Christin war, beschloss ich, dass es nicht mehr so weitergehen konnte.

Doch wie sollte die Zukunft aussehen? Ich stellte mir vor, insgesamt glücklicher zu sein, ausgeglichener. Die Depression würde wohl nie ganz verschwinden – aber ich würde es schaffen, die Momente der Dunkelheit zu überwinden und weiterzugehen.

Es kam jedoch anders.

Und da, ein Licht

Es stürzten Bauten

Die stellten sich

Um den Beraubten

Und frei war er von diesem Ort.

 

«Verzage nicht,

du kannst es glauben

dem, der verspricht

für immer hält der Herr sein Wort!»

Der Beginn war schwierig – wann immer ein Problem auf mich zukam, musste ich das Verlangen nach dem Ritzen zum Schweigen bringen, alle Sehnsucht zu sterben, die dann in mir aufkam, verweigern. Doch die Willenskraft, die ich dabei aufbrachte, überstieg alles, was im Rahmen meiner bisher gekannten Möglichkeiten lag.

Ich empfand tiefe Freude, wenn ich mich an Gott wandte, in der Kirche zu Ihm sang und mit Zeit mit Menschen verbrachte, die den Glauben an Ihn teilten. Immer mehr nahm ich wahr, dass die Leere in mir verschwunden war.

Diese ganze Geschichte liegt nun hinter mir. Die Depression, dieses tiefe Gefühl der Lustlosigkeit, ist nicht mehr zurückgekehrt, auch mit Selbstverletzung oder Suizidgedanken kämpfe ich nun nicht mehr. Stattdessen bin ich voller Zuversicht, auch wenn Schwierigkeiten aufkommen. Ich habe gute Freunde gefunden, mit denen ich das Leben teilen kann. Diejenigen, die mich länger kennen, können bezeugen, wie stark ich mich gewandelt habe. Ich habe eine grundlegende Freude in mir und bin dankbar für das Leben.

 

 

[1] Ich schrieb dieses Gedicht, Leere, im Frühjahr 2013. Im Nachhinein habe ich nur kleine Änderungen vorgenommen.

 

 

 

 

 

Leidest du oder jemand, den du kennst an suizidalen Gedanken oder verletzt du dich oder jemand anderes sich selbst? Dann wende dich an jemanden, dem du vertraust oder kontaktiere beispielsweise die Dargebotene Hand: https://www.143.ch/.
Du bist nicht allein. Du musst dich nicht schämen.
Und es gibt Möglichkeiten, einen Weg aus der Leere und Verzweiflung  zu finden.

 

Veröffentlicht von

ginamesserli

philosophy student @ university of Zürich, wannabe vegan, coffee and tea lover and knowbetter, so basically your average philosophy student.

Ein Gedanke zu “„Ich bin so dankbar, dass ich rechtzeitig den Entschluss fassen konnte, nochmals neu zu beginnen“”

  1. Deine Zerreissprobe ist für dich ausgefallen. Das „Seilziehen“ hast du gewonnen. Hast die plagende Leere mit Energie füllen können. Ich lese heraus, du hast dein Kampf durch Hoffnung und Vertrauen mit zu dir gut gesinnten Menschen gewonnen. Eine erfreuliche Geschichte!

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