«Man versucht einfach das Mögliche zu tun: Viel zu den Erkrankungen zu lesen, selbst Hilfe zu suchen und die Problematik zu besprechen.»

Wie es ist, wenn die eigenen Kinder mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben

Mam2

Lieblingsgetränk: Cola Zero

Du hast zwei Kinder mit psychischen Erkrankungen. Wann hast du gemerkt, dass etwas nicht stimmt?

B*: Was mir bei beiden Kindern früh auffiel, war, dass sie einen grossen Gerechtigkeitssinn hatten und feinfühlig waren. Die Tochter war wissensdurstig, saugte jede Information auf und verarbeitete diese bereits mit 5/6 Jahren in Geschichten, die sie schrieb. Ich fand, dass die Tochter einfach mehr „Antennen“ hatte im Vergleich zu anderen Kindern und sie auch die Menschen sehr gut einschätzen konnte. Sie hatte aber immer auch eine Fantasie fürs „Dunkle“ und wurde öfters von Alpträumen in der Nacht geplagt, in denen sie verfolgt wurde. Da dachte ich Uff, hoffentlich macht sie sich nicht allzu viel Sorgen über dies und jenes.

Mit etwa 10 Jahren bekam die Tochter starke Angstzustände, wollte uns immer in der Nähe haben, was überhaupt nicht ihrer Art entsprach, denn sie war nie ein ängstliches Kind gewesen. Man denkt dann natürlich zuerst an die Hormone oder Vorpubertät. In dieser Zeit fragte ich auch bei einer Psychiaterin um Rat. Diese meinte, dass dies eine Phase sei und vergehen werde. Nach meinem Empfinden dauerten diese sichtlichen Angstzustände aber sicher fast zwei Jahre an. Die Ängste kamen und gingen, dazu gesellten sich depressive Verstimmungen, die mehrere Jahre mal ausgeprägter, mal weniger ausgeprägt da waren.

Bei meinem Sohn merkte ich ebenfalls, dass er sensibler in der Wahrnehmung ist als andere Leute und sich mehr überlegte als der ‘grosse Haufen’. Was mich an ihm beeindruckte, war, dass er schon sehr früh eine ausserordentliche Feinmotorik zeigte und beispielsweise mehrere Stunden an einem Roboteraufbau verweilen konnte. Beim Sohn stellte ich aber im Gegensatz zur Tochter bereits mit etwa 3 Jahren seine Ängstlichkeit fest. Er erwachte sehr oft in der Nacht und hatte komische «Krampfanfälle» und Weinattacken. Aussenstehende Leute konnten ihn stark verunsichern und einschüchtern. Mit etwa 8 Jahren wurde er immer stiller und «kapselte» sich ab. In dieser Zeit begann sein Händewaschen, welches immer schlimmer wurde, dazu gesellten sich starke Gedanken- und Sprechzwänge. Auch hier konsultierte ich die Psychiaterin und auch hier war ihr Motto: Durchhalten, es wird dann schon besser.

Wie geht es den Kindern heute?

B*: Ich finde, dass die Tochter für ihr Alter sehr „geerdet“ ist und mit ihren Handicaps gut umgehen kann. Sie redet offen darüber und holt sich bei Bedarf nach wie vor Hilfe. Beim Sohn haben sich die Zwänge verbessert. Er ist offener und gesprächiger geworden. Das tägliche Chaos, die Kauferei und sich fürs nötige Schulische aufzuraffen, sind nach wie vor Knackpunkte.

Ist es schwierig, als Mutter oder als Familie den Zugang zu einem Kind mit einer psychischen Erkrankung zu finden? Wie würdest du sagen, geht man im Falle einer Erkrankung am besten vor?

B*: Also schwierig ist es sicher nicht, wenn die Kinder einem am Herzen liegen. Man versucht einfach das Mögliche zu tun: Viel zu den Erkrankungen zu lesen, selbst Hilfe beim Psychiater zu suchen und die Problematik mit dem Partner und den allerbesten Freund*innen zu besprechen. Dazu ist es wichtig, dass man als Ehepaar zusammenhält und am gleichen Strick zieht, auch wenn es einem vielleicht nicht immer gelingt.

Meine Erfahrungen haben gezeigt, dass man über einiges einfach hinwegsehen muss. Manchmal ist es besser, nachzugeben und locker zu lassen. Wenn möglich, sollte man auch keinen Druck auf die Kinder ausüben, sondern als Eltern immer Hilfestellungen anbieten, sei es fürs Lernen, fürs Aufräumen, für irgendwelche Notfallübungen wegen zeitlicher Knappheit oder anderem und Ruhezeiten einplanen und Strukturen vorleben. Man muss also flexibel bleiben. Darüber hinaus lernen die Kinder häufig auch selbst, wie sie mit ihrer Erkrankung umgehen können, sie entwickeln «Coping Strategien». Bei den Erkrankungen unserer Kinder im Spezifischen fand ich auch die richtige Medikation äusserst wichtig.

War die Akzeptanz, dass die eigenen Kinder psychische Erkrankungen haben, auch mit einer Art Trauerprozess verbunden – Trauer darüber, dass die eigenen Kinder nicht gesund sind? Oder mit Schuldgefühlen?

B*: Trauergefühle hat man schon. Es ist aber eher eine Niedergeschlagenheit und Ratlosigkeit. Schuldgefühle plagen mich nach wie vor enorm. «Was habe ich alles falsch gemacht», frage ich mich oft. Man verfällt dann in einen «Gedankenstrudel».

Ich war bestimmt in vielem inkonsequent, würde aber meine Kinder trotzdem wieder genau gleich erziehen. Was heisst aber schon erziehen. Ich erachte die Vorbildfunktion als Eltern wichtiger.

Wie verliert man sich in solchen Zeiten nicht selbst? Wie wichtig ist es, eine gewisse emotionale Distanz zu waren?

B*: In schwierigen und harten Zeiten, die es vor allem mit unserem Sohn gab, ist es wichtig, etwas zu tun, was einem Freude bereitet, sei es regelmässiger Sport oder der Beruf.

Ich war die letzten Jahre daheim als Hausfrau und verrichtete meine Arbeit immer sehr gerne. Ich konnte meine  kreativen Seiten ausleben und dadurch Entspannung gewinnen. Man muss sich bewusst aufraffen, voraus schauen und versuchen, positiv zu denken.

Eine emotionale Distanz konnte ich aber kaum schaffen und ich bemerkte irgendwann, dass die ganzen Herausforderungen mich an den Rand der Verzweiflung brachten. In solchen Momenten sind sofortige Gespräche, SMS oder Whatsapp mit dem Partner oder Psychiater Gold wert.

Ganz ehrlich: Können solche Erkrankungen manchmal nicht auch einfach nerven? Was machst du in solchen Situationen?

B*: Solche Erkrankungen strapazieren die Nerven enorm. Das dauernde Händewaschen, das tägliche Chaos, die Notwendigkeit, immer an alles denken müssen zu müssen – all das ist auf die Dauer äusserst anstrengend und kann zu Depressionen führen. Flexibilität ist – um es nochmals zu betonen – in jeder Hinsicht stark gefragt.

In solchen Situationen fällt halt dann auch das eine oder andere forsche, gehässige oder unangebrachte Wort und man ist wütend. Im Nachhinein hatte ich immer ein schlechtes Gewissen, dass ich so reagiert hatte. Später entspannte ich mich jeweils in einem Bad und da flossen dann halt die Tränen.

Was würdest du anderen in einer ähnlichen Situation raten?

B*: Die Ruhe bewahren, einen zuverlässigen, erfahrenen, spezialisierten und kompetenten Psychiater zu Rate ziehen. Unser Psychiater unterstützt uns seit Jahren. Sich übers Internet Informationen und Ratschläge einholen. Und nicht zuletzt: Mit dem Partner Ferien und Auszeiten zum Entspannen nehmen.

Schlusswort

Ich bin in jedem Fall stolz auf unsere Kinder. Sie sind eine Bereicherung fürs Leben und werden ihren Weg trotz allem gut meistern. Beide sind körperlich gesund, liebenswürdig, angepasst, haben einen sehr guten Charakter, sind intelligent und sind immer für Neues zu begeistern – und das ist sehr viel wert.

Veröffentlicht von

ginamesserli

philosophy student @ university of Zürich, wannabe vegan, coffee and tea lover and knowbetter, so basically your average philosophy student.

2 Gedanken zu „«Man versucht einfach das Mögliche zu tun: Viel zu den Erkrankungen zu lesen, selbst Hilfe zu suchen und die Problematik zu besprechen.»“

  1. Liebe B.
    Sehr treffend beschrieben mit „mehr Antennen“, also sensible Wesen. Solche Menschen sind dann oft auch verletzlicher. Du begleitest deine Kinder mit deiner Art als Mutter und Freundin sehr wertvoll durchs Leben. Dir ist Vorbildfunktion wichtiger als „Erziehung“. Das heisst für mich, du gibst wichtige Verantwortung ab. Deine Kinder haben Strategien gelernt und in Krisenzeiten angewendet.
    Dich plagen auch Ratlosigkeit und Schuldgefühle und dass du an Grenzen stösst. Für mich sehr nachvollziehbar und eigentlich ganz normal.
    Im „Schlusswort“ beschreibst du deine Kinder wunderbar. Ich meine das ist auch deine „Handschrift“.
    Nebst Psychiater und Medikamente gibts auch „Angehörigengruppen psychisch kranker Menschen“ welche sich in Begleitung von Profis wertvoll austauschen.
    Alles Gute
    Viktor

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