Eine ehemalige Pflegefachperson Psychiatrie erzählt, Teil 3: Fallbeispiel

Oder: Wie Eintritt, Diagnose und Austritt eines Patienten*/ einer Patientin* aussehen könnten und was V* dazu meint

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Lieblingsgetränk: Unterschiedlich; zum Zeitpunkt dieses Gesprächs ein Milchkaffee

Anmerkung: Dieser Bericht resultiert aus verschiedenen Begegnungen mit Betroffenen von psychischen Erkrankungen während einer stationären Behandlung und gibt nicht eine tatsächlich eins zu eins so vorgefallene Gegebenheit wieder.

 

Herr P., 46-jährig, Schreiner von Beruf, begleitet seine Ehefrau, 43-jährig, früher Verkäuferin, zur Aufnahme in die Klinik. Die beiden haben 2 Töchter (22- und 19-jährig) und einen Sohn (15-jährig).

Der Gesichtsausdruck von Frau P. ist ernst, von der Umgebung unberührt, leer, zugleich von einer inneren Anspannung vibrierend. Ihre starren Bewegungen drücken Untätigkeit und eine innere Unruhe aus. Während des langen Aufnahmegesprächs sitzt Frau P. kerzengerade auf der Stuhlkante; sie wirkt in allem gehemmt. Herr P. sitzt entspannt im Sessel; er wirkt kräftig, vital und aufmerksam. Auf Nachfrage weist er eine Überforderung seinerseits zurück; er sei Kummer gewohnt, seine Frau sei krank und sie brauche jetzt eine Behandlung.

Da jede Frage schneller von ihm als von seiner Frau beantwortet wird, empfehlen wir ihm die Angehörigengruppe, auch um mit seiner Frau überhaupt ins Gespräch zu kommen.

Das geht allerdings nur stockend und mühsam:

Frau P. fühle sich wie versteinert, hoffnungslos, könne nicht trauern, nicht das Nötigste im Haushalt tun. Sie grüble oft und ihre Gedanken würden sich im Kreis drehen. Alles erscheine ihr sinnlos, meint sie, sie fühle sich überflüssig und sehe sich als Ballast für die Familie, solle aus dem Leben treten. Die einfühlende Fürsorge mache ihre Schuldgefühle noch schlimmer. Sie habe darüber hinaus ständig Unterleibsschmerzen, keinen Appetit mehr und habe in 5 Wochen rund 7kg abgenommen. Sie könne seit Wochen nicht mehr durchschlafen und sei jeweils am Morgen sehr erschöpft. Zudem lebe sie isoliert zu Hause. Die Ehe sei zwar gut, es gäbe keine Konflikte oder Belastungen. Ihr Ehemann sei aber dominant und bestimme das Geschehen.

In den letzten Tagen habe sich ihre Lage zugespitzt; sie sei überzeugt, nie mehr gesund zu werden und fühle sich vermehrt ängstlich. Sie habe am Abend mehrmals das Haus verlassen und wollte von einer Brücke springen, um diesen Leidensdruck zu beenden.

Dies sei innert fünf Jahren die dritte Depression. Nach rund zehn Wochen stationärer Behandlung sei es ihr jeweils wieder gut gegangen und sie konnte dann ihre Aufgaben wie den Haushalt und die Gartenpflege auch wieder erfüllen. Von ihrer Mutter seien ebenfalls depressive Zustände bekannt.

Diese Schilderung rechtfertigt schliesslich die folgende Diagnose: Schwere Depression ohne psychotisches Erleben sowie mittelgradige Angstzustände.

Aus dem Bericht von Frau P. erfahren wir verschiedene Defizite / Probleme bezüglich den „Aktivitäten des täglichen Lebens“:

  • Schlafstörungen / Erschöpfung
  • Fehlender Appetit / Gewichtsverlust
  • Geringes Selbstwertgefühl
  • Schmerzen im Unterleib
  • Verminderter Antrieb
  • Gedankenkreisen
  • Beeinträchtigte Kommunikation
  • Depressive Grundstimmung
  • Suizidgefahr
  • Sozialer Rückzug

 

Zusammen mit Frau P. nehmen wir letztlich drei der Defizite in den Pflegeprozess auf. Dies ist die gängige Praxis, da kaum alle Probleme gleichzeitig angegangen werden können und häufig das Lösen eines Defizits auch eine wesentliche Verbesserung in anderen Bereichen mit sich bringt. Es wird also der folgende Pflegeplan erstellt:

 

Diagnose: Schlafstörung / Erschöpfung

Assessment: Kann lange nicht einschlafen und erwacht mehrmals; ist am Morgen erschöpft

Intervention: Regelmässige Bettzeiten einhalten, Entspannungsbad, eigenes Ritual, Tee, Zimmer  durchlüften

Pflegeziel:: Pflegt geordneten Tag / Nachtrhythmus und ist am Morgen erholt

 

Diagnose: Suizidgefahr

Assessment: Hoffnungslos, sinnlos, interessenlos, geringes Selbstwertgefühl

Intervention: Achtsam am Abend, was ist tagsüber positiv verlaufen. Liste mit Eigenschaften  (mögen /ablehnen), Selbstvertrauen stärken

Pflegeziel: Gestärktes Selbstwertgefühl

 

Diagnose: Beeinträchtigte verbale Kommunikation

Assessment:  Spricht wenig, ohne Mimik und Gestik, monoton, negativ fokussiert

Intervention: Blickkontakt herstellen, Soziale Isolation vermeiden, Zeit lassen, Tägl. Feedback

 

Unterstützt wird die Behandlung durch ein stationsinternes Wochenprogramm mit Aktivitäten wie Spaziergängen, Ausflügen, Kochen, Entspannungsgruppen, Gruppenspielen und -gesprächen sowie Ergo-, Bewegungs-, Mal- und Lichttherapie und einer Depressionsgruppe.

Ihr Arzt führt darüber hinaus regelmässige Standortgespräche durch und prüft die Wirkung der medikamentösen Therapie.

Die Bezugspflege dagegen begleitet und unterstützt, wo nötig, Frau P. und führt regelmässig Pflegeplangespräche durch.

 

Bewusst wird an dieser Stelle nun die Behandlungsdauer von sechs Wochen übersprungen, da diese zu fest ins Detail gehen würde, um sie getreu wiederzugeben. Deshalb schildere ich nun zusammengefasst den Ist-Zustand von Frau P. vor ihrem Austritt:

 

  • Frau P. kann besser ein- und durchschlafen und ist am Morgen erholt; sie hat weniger Gedankenkreisen.
  • Ihr Selbstwertgefühl hat sich gesteigert; Hoffnung ist zurückgekehrt und sie zeigt vermehrt Interesse (beispielweise durch kochen oder vermehrtes sich mitteilen)
  • Sie kommuniziert sicht- und hörbar besser mit Mimik und Gestik und kann den Blickkontakt halten.
  • Suizidgedanken sind weniger häufig vorhanden und sie meldet sich bei Vertrauenspersonen.

 

Nach weiteren zwei Wochen Aufenthalt in der Tagesklinik tritt Frau P. in die alten Verhältnisse zurück.

Über den Austrittsfragebogen erteilt Frau P. dem Behandlungsteam eine sehr gute Note.

 

Was ist geschehen – war es für alle Beteiligten ein Vollerfolg? Ein Standarderfolg? Oder doch gar kein Erfolg?

Wenn ich Frau P.s Behandlung auswerte, kommen in mir Zweifel auf, ob sie nach ihrem Aufenthalt tatsächlich genügend Eigenverantwortung übernehmen kann und kräftig genug ist, IHR Leben zu gestalten und zu geniessen, zumal sie an der Seite eines dominanten Ehemannes lebt; selbst, wenn die Behandlung zunächst gewissermassen erfolgreich gewesen zu sein scheint.

Ich wage zu behaupten, dass das, was geschehen ist, eine Annäherung war – eine «Behandlung von aussen“, also eine Symptomdiagnose mit „Symptombekämpfung“.

Eine solche Diagnose erfasst aber nie die Wirklichkeit eines Menschen mit all seinen Facetten. Sie ist lediglich ein Modell für seine Auffälligkeiten.

Wir wissen deshalb nie genau, was grundlegend zur Genesung geführt hat; ob es die Therapien waren, die Fachgespräche, die Begegnung mit Gleichgestellten, die Alltagsentlastung, ein Klimawechsel, die Gruppenarbeiten oder das Kennenlernen neuer Menschen usw.

Mir fehlte im konkreten Fall von Frau P. die „Annäherung von innen“, die Grundhaltung in der Begegnung.

Diese scheint oft zu fehlen, denn psychisch kranke Menschen neigen oft durch Verunsicherung, Angst, und Schmerz dazu, ihre Lebenskrise abzuwehren statt zu nutzen. Dabei werden sie vom Behandlungsteam noch in den meisten Belangen unterstützt.

Ich behaupte: ein Irrtum! (Auch wenn das sicherlich leichter geschrieben als getan ist).

Die Grundlage für jede Hilfs- und Veränderungsaktion ist es, die Lebenskrise zu verstehen zu lernen und dann Lösungsansätze zu finden. Vorerst muss der/die Betroffene* sein* bzw. ihr* Selbstvertrauen und die Hoffnung wiedergewinnen.

Wie gestalte ich diese Begegnung? Durch Einfühlen in die betroffene Person? Das geht leider nicht, denn ich kann nur erfahren, wie sich Betroffene fühlen, wenn ich mir vorstelle, selbst in demselben Zustand zu sein.

Ein Ansatz, eine solche Begegnung zu gestalten, findet sich in der vor gut 20 Jahren in Amerika von psychisch Betroffenen gegründeten Recovery-Bewegung; einem Modell, in welchem nicht primär die Symptomatik behandelt wird, sondern Selbstbestimmung, Wahlfreiheit, Eigenverantwortung und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gefördert werden. Unterstützt wird hierbei das Behandlungsteam von sogenannten «Peers», also Experten* und Expertinnen*, welche selbst Erfahrungen mit psychischen Leiden gemacht haben. Diese sind speziell ausgebildet und können Betroffene* mit Ratschlägen unterstützen und begleiten. Dies erscheint mir sinnvoller.

Was lässt sich also zum Abschluss sagen? Professionelle* wollen meist die Patienten* und Patientinnen* besser verstehen. Dabei sollte unser Ziel doch viel mehr sein, dass der Patient* bzw. die Patientin* sich selbst besser versteht – auf dem Umweg über ein Behandlungsteam. Ich muss also seine Lebenskrise reflektieren, damit meine Haltung zwangsläufig zum Modell für den Patienten* bzw. die Patientin* wird; damit er* oder sie* beginnt, sich zu fragen, was er bei sich ändern muss. Und das geschieht durch eine „Symptombehandlung“ bloss beiläufig; so wohl auch im Fall von Frau P..