Über die Angst, als „verrückt“ zu gelten und die Bemühung, dem Stigma entgegenzuwirken
Lieblingsgetränk: Rooibostee
Vor anderthalb Jahren ist meine Angsterkrankung aufgetaucht, hat mich bewusstlos geschlagen und sich meines Lebens bemächtigt. Den Großteil jeden Tages verbrachte ich auf dem Sofa und weinte in meine Popcornschüssel. Alles schien vorbei zu sein – meine beruflichen Ziele; meine Reisewünsche, meine Träume und Ideen – alle nicht mehr umsetzbar. Wie denn auch, wenn ich mich nicht mehr aus dem Haus wagte, nicht mehr arbeiten, nicht mehr hoffen konnte?
Jeder neue Tag brachte eine weitere Panikattacke, oder doch zumindest Angstzustände und dieses übermächtige Gefühl, den Verstand zu verlieren – wenn die Angsterkrankung aus dem Nichts über mich hereinbrechen konnte, was konnte mir noch zustoßen? Mein Hirn trieb das Gedankenkarussell immer weiter munter an.
Die Symptome während der Panikattacken waren kaum auszuhalten – einem oder einer Betroffenen muss ich das wohl nicht erklären. An alle, die das Glück haben, noch nie eine Panikattacke durchgemacht zu haben: Nichts ist übertrieben oder gespielt, wenn euch ein Betroffener oder eine Betroffene sagt, er oder sie hätte das Gefühl, zu sterben.
Nebst diesen Symptomen musste ich mit einer weiteren Hürde fertig werden: dem „So-tun-als-ob“.
In den ersten Wochen meiner Erkrankung wusste bloß mein Freund, was mit mir los war. Für alle anderen da draußen trug ich die heile Maske: für Familie, Freund, Bekannte, Vorgesetzte, Fremde.
Die Wahrheit zugeben? Das klang für mich zu sehr nach Eigentor.
Bis dahin war ich ein fester Baustein in der allgemeinen Auffassung, dass Menschen, deren Psyche Sprünge und Risse hatte, nicht „normal“ waren. Das waren die Irren, die Ausgestoßenen. Die „sind doch verrückt“, die haben „nicht mehr alle Tassen im Schrank“, „eine Schraube locker“. Wir kennen so viele Redewendungen, mit denen wir einen psychisch erkrankten Menschen beschreiben, aber wir kennen so wenig Fakten über die Krankheiten und die Erkrankten.
Ich hatte Angst.
Ich hatte Angst vor dem „jetzt stell‘ dich doch nicht so an, was willst du denn? Dir geht’s doch gut!“
Ich hatte Angst vor peinlich berührten Blicken, sobald das Wort „Therapie“ fallen würde.
Ich hatte Angst davor, Freundschaften zu verlieren und von Kollegen und Kolleginnen nicht mehr für belastbar gehalten zu werden.
Ich hatte Angst vor Vorurteilen, die ich bis dahin selbst hatte.
„Und was dann?“, fragt mich meine Therapeutin häufig, wenn ich mich in negativen Gedankenschleifen verirre. Wenn ich ehrlich von meiner Erkrankung erzählte – würden mich die anderen für verrückt halten? „Und dann?“ Dann würden sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. „Und dann?“ Dann wäre ich allein. Aber: „Wollen Sie lieber die Gesellschaft von Menschen, für die Sie sich verstellen müssen? Menschen, die Sie eigentlich nicht akzeptieren würden?“
Meine Familie reagierte entspannt auf meine Schilderungen – warum sollte sie auch nicht? Was hatte ich bloß erwartet? Meine Chefin hatte Verständnis. Niemand lachte mich aus, oder zeigte mit dem Finger auf mich. Das war gut. Ich hatte das Gefühl, mit jedem Mal, wenn ich ehrlich über meinen Zustand gesprochen hatte, freier atmen zu können.
Das Risiko für Panikattacken nimmt bei mir proportional zu dem Druck zu, den ich verspüre. Die Ironie ist, dass ich selten durch äußere Einflüsse unter immensen Druck gerate. Ich bin ein sehr entspannter Mensch. Der Druck, der mir zu schaffen macht, entspringt meinem eigenen Kopf. Ich dachte, ich müsste meinen Gesundheitszustand verschweigen. Müsste schauspielern und dürfte auf keinen Fall auf mich aufmerksam machen. Dabei saß mir stets diese unglaubliche Angst im Nacken, ich könnte mich verraten. Sie schwoll in meiner Brust zu einem riesigen Ballon, der mir das Atmen schwermachte und mein Herz rasen ließ.
Das fühlte sich so überwältigend an. Und falsch. Richtig falsch, mächtig unfair. Da hatte ich nun diese Erkrankung, mit der ich zurechtkommen sollte. Und als Bonus gab es noch die Befürchtung, als Verrückte abgestempelt zu werden. Es ist schwer, aus diesem Gedankenkreis herauszubrechen. Doch irgendwann wollte ich einfach nicht mehr nur das Opfer sein. Im Umgang mit und am Verständnis von psychischen Erkrankungen muss sich so viel ändern. Diese ganzen Vorurteile und Berührungsängste – wie viel unnötigen Schmerz, Druck, wie viele Sorgen und schlaflose Grübelnächte sie verursachen. Warum werde ich schief angesehen, wenn ich genauso offen über eine Panikattacke oder meine Therapie spreche wie über eine Erkältung? Warum muss man sich rechtfertigen, wenn die Psyche eine Krankschreibung erfordert?
Das passte für mich nicht zusammen und daher habe ich beschlossen, in kleinen Schritten mit der Wahrheit rauszurücken. Ich weihte Freunde und Freundinnen ein, wenn das Thema aufkam. Kollegen und Kolleginnen. In Bewerbungsgesprächen erklärte ich meine letzte Kündigung nicht mit Ausreden, sondern eben damit, dass ich krank war. Dass meine Angsterkrankung mich dazu gezwungen hatte, mich selbst in den Vordergrund zu stellen und eine Auszeit zu nehmen.
Die Reaktionen fallen unterschiedlich aus. Meist scheint mein Gegenüber erschrocken, verlegen, es folgt ein kurzer Blick zu Boden, dann Themenwechsel. Gelegentlich höre ich ein überraschtes „Aber du bist doch immer so fröhlich!“. Ein Vorgesetzter hat mich lachend gefragt, ob ich denn etwa Angst vor meinem alten Arbeitgeber gehabt hätte – vermutlich lustig gemeint, aber ein Gefühl sagt mir, dass er über einen Rheumapatienten keine Scherze gemacht hätte.
Wenn mein Gesprächspartner oder meine Gesprächspartnerin mehr über die Erkrankung wissen will, dann erzähle ich gern. Aufzwingen will ich mich niemandem, aber bei ehrlichem Interesse will ich dabei helfen, vielleicht ein Vorurteil mehr aus der Welt zu schaffen.
Heute fühle ich mich freier. Ich erinnere mich so oft es geht daran, dass ich meine Erkrankung nicht verheimlichen muss. Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund und dem Ballon in meinem Inneren ist die Luft beinahe ausgegangen.
Es ist jedes Mal eine Überwindung, ehrlich zu sein und ich schaffe es noch längst nicht immer, die Ausflüchte zu vermeiden. Vermutlich werde ich jedes Mal noch knallrot im Gesicht. Ich muss mich dazu überwinden, meinem Gesprächspartner oder meiner Gesprächspartnerin in die Augen zu sehen, anstatt mit meinem Blick in Richtung Boden abzudriften – als würde ich gerade etwas gestehen, dessen ich mich schämen müsste. Die Vorurteile, mit denen ich aufgewachsen bin und gegen die ich heute kämpfe, sind noch immer tief in meinen Zellen begraben. So einfach lassen sie sich nicht herauswaschen – leider. Hätte ich sie nicht im Hinterkopf, wäre der offene Umgang mit meiner Erkrankung viel einfacher. Aber mir wird übel, wenn ich an alle Tabus denke, die Menschen mit psychischen Erkrankungen das Leben noch weiter erschweren. Was soll die Stigmatisierung? Sind wir nicht längst darüber hinausgewachsen?
Je öfter ich mich im Alltag dazu überwinde, desto leichter fällt es mir. Und letzten Endes ist es wie mit dem Umgang mit der Angst – je öfter ich mich traue, desto kleiner erscheint die Bedrohung.