Philosophische Gedanken zu Zwangsstörungen und Psychotherapie: Teil II

Zwangsstörungen

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Lieblingsgetränk: Ice Tee

Wir kommen jetzt zur zweiten Dimension, entlang welcher «Rationalität» ein Problem darstellen kann, wenn es um psychische Erkrankungen und die Behandlung derselben geht. Ich möchte an dieser Stelle einen Disclaimer machen: Wenn du bereits unter Zwangsgedanken leidest, dann tu dir selbst einen Gefallen und lies hier nicht mehr weiter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du irgendeinen Gewinn aus diesem zweiten Teil ziehen könntest, abgesehen von mehr Zwangsgedanken. Und wie wir beide wissen, ist jeder einzelne von denen einer zu viel.

Als ich letzten Sommer meine Medikamente absetzte und spürte, wie viele Emotionen und Antriebe mit voller Kraft zurückkehrten, kehrten auch meine üblichen Zwangsgedanken bezüglich Sexualität und Gewalt zurück. Da ich auf Grund der vier Jahre Ruhe etwas von meiner Expertise im Umgang mit ihnen verloren hatte, trafen sie mich hart. Das war aller Wahrscheinlichkeit nach der hauptsächliche Grund für die darauffolgende Krise, wenn man bedenkt, dass ich schon von Anfang an destabilisiert gewesen war. Bevor ich euch von dem erzähle, was ich irgendwann als «paradoxe Zwangsgedanken» zu bezeichnen begann, gibt es einige therapeutische Tools, die wir vorher anschauen müssen.

Laut der kognitiven Verhaltenstherapie ist es wichtig, sich nicht mit dem Inhalt von Zwangsgedanken zu beschäftigen, sondern stattdessen einfach zu akzeptieren, dass der Gedanke aufkommt und es dann bei dem zu belassen. Diese Technik ist zentral, wenn es darum geht, mit Zwangsgedanken umzugehen, da das Ernstnehmen des Inhalts von Zwangsgedanken gerade erst den krankhaften Zyklus von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen generiert. Natürlich ist das einfacher gesagt als getan. Es ist schwierig den schieren Horror zu beschreiben, den man erlebt, wenn man von einem Zwangsgedanken komplett überrumpelt wird, und dieser Horror ist es, was es schwierig macht, nicht sofort den Inhalt des Zwangsgedankens zu betrachten und ihn auseinanderzunehmen.

Wie ich bereits im ersten Teil dargelegt habe, habe ich immer gewisse skeptische Zweifel bezüglich der Therapie, mit der man mich behandelte, gehegt. Ich spreche hier über diejenigen Teile einer Therapie, die einige «interessante» moralphilosophische Gedanken verkleiden, um zu bestimmen, was «psychische Gesundheit» ist oder nicht. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn man Aussagen wie «Ich bin wertvoll» als einen Standard für psychische Gesundheit behandelt, weil psychische gesunde Personen anscheinend solche Dinge glauben, während man die explizit moralischen Grundlagen solcher Aussagen einfach ignoriert. Ich überlegte mir also eines Tages, welche der Dinge, die ich in der Therapie gelernt hatte, zutreffender als verwässerte Moralphilosophie beschrieben werden könnten, und denen, gerade weil sie verwässert sind, die notwendige Rigorosität im Umgang mit solchen Themen fehlte, und hatte plötzlich Angst, dass ich, indem ich den Anweisungen meines Therapeuten folgte, zu Glaubensgrundsätzen gelangt war, die falsch waren, oder gewisse Denk- und Verhaltensweisen angenommen hatten, die zu recht kritisierbar wären. Ich hatte dann die folgende «Idee»: Wenn ich Zwangsgedanken in Bezug auf Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie hatte, dann würden, wie oben erwähnt, diese Techniken von mir verlangen, dass ich den Inhalt dieser Zwangsgedanken ignorierte. Wenn ich allerdings den Inhalt ignorierte, also die Techniken anwandte, würde ich deren Inhalt zugleich nicht ignorieren, da ich, während ich die Technik anwenden, zugleich deren Inhalt zurückweisen würde – nämlich, dass meine Techniken in einem gewissen Sinn fehlerhaft sind. Ich befasse mich also mit dem Inhalt der Zwangsgedanken und ende letztlich damit, dass ich die Techniken in einem gewissen Sinne eben doch nicht anwende. Auf den ersten Blick sah das für mich wie ein genuines Paradoxon aus.

Ich habe das Wort vielleicht schon zu viel gebraucht, aber wenn es irgendwo Anwendung findet, dann sicherlich hier: Ich war komplett überwältigt von einem Gefühl schieren Horrors. Mein erster Gedanke war: «Jetzt ist alles vorbei. Du hast Zwangsgedanken erschaffen, mit denen man nicht mehr umgehen kann. Dir kann nicht mehr geholfen werden. Gratulation!». Offensichtlich liegt es in der Natur von Paradoxien – wenn man davon ausgeht, dass es sich um ein genuines Paradoxon handelt –, dass diese unauflösbar sind, und da die Anwendung meiner Techniken nun die Auflösung eines Paradoxons zu bedingen schien, schien es mir, als hätte ich meinen Kampf gegen meine Zwangserkrankung verloren.

Das markierte den Beginn eines äusserst mühsamen Sommers. Einige Tage später wurde ich in einer Tagesklinik hospitalisiert, die sich darauf spezialisierte, Hilfe für Menschen bereitzustellen, die sich zurzeit in einer Krise befanden. Normalerweise dauert ein Aufenthalt maximal 7 Tage. Ich war für 3 Wochen hospitalisiert, ehe mein Therapeut aus seinen Ferien zurückkehrte und fähig war, mich in einem ambulanten Setting zu betreuen. Leider wurde alles nur noch schlimmer. Dank einiger weiterer «geistreicher» Ideen verschoben sich meine Zwangsgedanken weg von der Angst bezüglich Paradoxien hinsichtlich meiner Anwendung von CBT-Techniken und hin zu allgemeineren Themen wie was real und was gewiss ist. Üblicherweise würde ein Gedankengang etwa wie folgt ablaufen: «Wenn ich Zwangsgedanken hinsichtlich dessen habe, was real ist und was nicht, muss ich, um meine Techniken anwenden zu können, zuerst davon ausgehen, dass meine Zwangsgedanken real sind. Das ist aber genau das, was bestritten wird, also würde ich mich wieder mit ihrem Inhalt auseinandersetzen!». Beachte hier meinen Gebrauch des Wortes «würde». Am Schluss des Tages kann ich mich kaum daran erinnern, während dieses Sommers tatsächlich Zwangsgedanken hinsichtlich dieser Dinge gehabt zu haben. Die ganze Tortur drehte sich nur um diese Art von «Wenn»-Aussagen. Es ist vernünftig zu vermuten, dass diese Wenn-Aussagen dasjenige waren, worunter ich litt; dass das die Zwangsaussagen waren, anstelle von Zwangsgedanken erster Stufe wie «Das ist nicht real!». Was auch immer der Fall war, ich hoffe, es ist irgendwie verständlich, wie solche Gedanken quälend sein können, vor allem, sobald man sich diese Gedanken als «schwarze Löcher» vorstellt: Wenn man einmal drin ist, kommt man nicht mehr raus, weil sie «unlösbar» sind.

Als meine Zwangsgedanken sich von Sorgen um die Realität hin zu Sorgen um Gewissheit verschoben, wurde es ziemlich chaotisch. Stell dir vor, du wächst eines Tages in einem fremden Bett, an einem fremden Ort auf, wo Menschen geplagt vom Schicksal temporär mit dir zusammenwohnen, und du fühlst nichts als Angst. Klarerweise sind das nicht gerade die besten Bedingungen, um mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und so etwas wie «Ich bin mir sicher, dass 1+1=2 ist» zu sagen. Doch genau dieses Gefühl von Sicherheit war es, was ich damals verzweifelt am suchen war. Wenn nun oben drauf deine Zwangsgedanken dich auch noch mit Zweifel über Gewissheiten zu plagen beginnen und du so oder so schon psychisch und physisch erschöpft bist, könntest du am Ende so etwas wie ein globaler Skeptiker werden, d.h. jemand, der jede Aussage, die du vorbringst, anzweifelt, egal wie selbst-evident sie aussieht. Um alles noch schlimmer zu machen, bekommst du jetzt noch Zwangsgedanken, die dir sagen, dass das, was du erreicht hast,so etwas wie eine intellektuelle Erleuchtung sei und, dass zurückzugehen zu deinem ursprünglichen Geisteszustand bedeuten würde, eine wichtige Einsicht zu verlieren. Um es kurz zu fassen: Ich war zwischen Stuhl und Bank gefangen.

Glücklicherweise hielt diese Situation nicht länger als einen Monat an. Du magst dich jetzt vielleicht fragen, wie es mir gelang, dem schwarzen Loch zu entfliehen. Und um ehrlich zu sein: Das weiss ich selbst nicht so genau. Es war ein Sonntagnachmittag, als mehrere Dinge gleichzeitig geschahen: Zuerst nahm ich all meinen Mut zusammen und versuchte eine Expositionstherapie hinsichtlich der Gewissheit meiner Zwangsgedanken. Zweitens ass ich ungefähr ein halbes Kilo Pommes. Ich hatte zuvor während meiner drei Wochen Klinikaufenthalt etwa 10 Kilogramm verloren gehabt. Drittens nahm ich zusätzlich zu meinem SSRI, welches ich wieder zu nehmen begonnen hatte, ein Anti-Psychotikum, das bekannt war für seinen beruhigenden und schlaf-fördernden Effekt. Während meines Aufenthalts hatte ich durchschnittlich nur 4-5 Stunden pro Nacht geschlafen. Diese Nacht schlief ich als Resultat des Medikamentes etwa 15 Stunden durch. Die Kombination dieser Dinge muss wohl ihren Zweck erfüllt haben: So schnell wie die Krise gekommen war, klang sie auch wieder ab.

Um zurück zum Titel meines Essays zu gelangen: Rationalität spielt verschiedene Rollen in all dem. Erstens war Rationalität verstanden als eine Fähigkeit sicherlich notwendig, damit die ganze Tortur überhaupt entstehen konnte. Wenn ich nicht so starke analytische Fähigkeiten hätte, hätte ich solche Zwangsgedanken gar nie entwickelt. Rationalität spielt aber auch in einem anderen Sinne eine Rolle. Schliesslich hat Rationalität für mich wie für viele andere Menschen einen hohen Stellenwert, weshalb ich sie auch verfolge. Aber das zusätzlich zu gewissen perfektionistischen Tendenzen und teilweise auftretendem schwarz-weiss Denken zu tun, kann pathologische Effekte erzeugen.

Bevor ich meinen Essay beende, möchte ich etwashinsichtlich dessen bemerken, was ich bis jetzt gesagt habe. Manche Menschen werden meine Geschichte vielleicht dazu verwenden wollen, um etwas zu beweisen, beispielsweise, dass Rationalität – oder «rationalitäts-basierte» Therapien – verheerend für die psychische Gesundheit eines Menschen oder sonst irgendwie fehlerhaft sind. Dem möchte ich widersprechen. Viele der schwarzen Löcher verdampfen zum Beispiel, sobald man fähig ist, mit einem ruhigeren Geist an sie heranzugehen. Betrachte beispielsweise das Problem mit dem Paradoxon bezüglich der Anwendung der Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie. Ist es wirklich ein Paradoxon? Es gibt hier zwei Dinge zu bemerken. Erstens gibt es mehrere Techniken. Während ich also zwar eine Technik anwende, was dazu führt, dass ich eine andere nicht anwende, bedeutet das nicht, dass ich dieselbe Technik zur selben Zeit anwende und doch nicht anwende. Selbst wenn das der Fall wäre, so wären nicht alle meine Techniken gleichzeitig «gefährdet». Darüber hinaus ist es plausibel anzunehmen, dass es verschiedene Arten gibt, wie man sich mit dem Inhalt von Zwangsgedanken auseinandersetzen kann – direkt oder indirekt beispielsweise. Aus diesem Grund könnten Beschreibungen wie «diese und jene Technik anwenden und nicht anwenden» oder «sich mit dem Inhalt von Zwangsgedanken auseinandersetzen und gleichzeitig nicht» Fehlbeschreibungen sein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht gleichzeitig mich mit dem Inhalt eines bestimmten Gedankens auseinandersetzen und nicht auseinandersetzen kann. Wenn ich den Gedanken einfach als Zwangsgedanken erkenne und dann dessen Inhalt ignoriere, ignoriere ich ihn. Sobald ich mir der Tatsache bewusst bin, dass solch eine Handlung implizit die Zurückweisung der Aussage, die der Zwangsgedanke beinhaltet, impliziert, bin ich genau das – mir dieser Tatsache bewusst. Solch eine Inferenz zu begreifen, ist allerdings nicht dasselbe, wie sich mit dem Inhalt des Zwangsgedankens oder sich auf sonst eine direkte Art mit ihm auseinanderzusetzen. Dazu kommt, dass die in Frage stehende Zurückweisung gar nicht eine genuine sein muss: Vielleicht kann ich für den Moment einfach annehmen, dass der Inhalt falsch ist, ohne mich hierbei darauf zu einigen, dass der Inhalt wirklich falsch ist. Letzten Endes kann ich also ganz stur einfach meine Techniken benutzen und die Fragen nach ihrer Gültigkeit auf später verschieben.

Bezüglich der Zwangsgedanken um Realität und Gewissheit mag es ziemlich sicher ähnliche Klarifikationen und Wege geben, mit ihnen umzugehen. Ausserdem würden wohl die meisten PhilosophInnen mit mir übereinstimmen, wenn ich sage, dass (objektive) Gewissheit manchmal wirklich schwierig zu erreichen ist.  Wir können uns aber auch mit weniger begnügen: Ist Gewissheit nicht zu erreichen, so sind wir immer noch gerechtfertigt, diejenigen Glaubenssätze für wahr zu halten, die am plausibelsten sind. Daher mag es am Ende des Tages gerechtfertigt sein, gewisse epistemische Risiken einzugehen. Und mir selbst scheint ein unterbewusstes, fehlerhaftes Prinzip meinerseits im Sinne von «Gewissheit oder gar nichts!» die treibende Kraft hinter solchen Zwangsgedanken zu sein, welches definitiv einer Revision bedarf.

Ich habe also immer noch viel, woran ich arbeiten muss. Aber ich habe solche «paradoxe» Zwangsgedanken schon einmal besiegt, also sollte ich sie auch wieder besiegen können. Am Ende des Tages bin ich zuversichtlich, dass ich eines Tages einen Weg finden werde, mit solchen Zwangsgedanken umzugehen und in diesem Prozess auch ein Stück Lebensqualität wieder zurückzuerlangen.

 

Wenn ihr es so weit geschafft habt, möchte ich euch herzlich dafür danken, dass ihr alles durchgelesen habt! Ich hoffe, es war mehr oder weniger verständlich und vielleicht sogar bis zu einem gewissen Grad informativ für euch.

 

 

Zwangsstörung: Bei einer Zwangserkrankung treten sogenannte Zwangsgedanken und Zwangshandlungen auf. Zwangsgedanken äussern sich in zwanghaft immer wieder auftretenden Gedanken und Impulsen wie Zweifel, Befürchtungen, Grübel- oder Wiederholungszwänge (bestimmte Sätze oder Wörter müssen auf eine bestimmte Art und Weise oder eine bestimmte Anzahl von Malen wiederholt werden), deren Inhalt als unsinnig erkannt, gegen die aber nichts unternommen werden kann. Zwangshandlungen dagegen bezeichnen zwanghaft ausgeführte Handlungen wie beispielsweise der Zwang bestimmte Dinge immer wieder zu berühren oder zu zählen, deren Unterlassen zu starken Ängsten und Anspannung führt. Es treten nicht in jedem Fall beide Symptome auf1

 

 

 

 

 

 

 

 

Quellen:

1 „Zwangsstörung“. Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Zwangsst%C3%B6rung [Letzter Aufruf: 10.12.2019]