„Der Körper sagt einfach: ‚Juhuu, jetzt machen wir Sauna!‘ und das ist dann sehr unangenehm“

Ein freier Dialog über das Leben, Ängste und den Umgang mit beidem

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Lieblingsgetränk: Machiatto Freddo

G: Wie haben deine psychischen Probleme angefangen und wann wurden sie zum Problem?

M*: Die Scheidung meiner Eltern hatte Auswirkungen. Da war ich acht Jahre alt. Vor allem das «Downgrading» war schwierig. Wir hatten in einem Haus mit viel Umschwung gewohnt und mussten dann in eine Wohnung umziehen. Und wenn du für die Schule Kleider aus der Brockenstube  anziehen musst, die uncool und unmodisch sind, und du dafür gemobbt wirst… Nun, all das löste in mir eine grosse Scham aus.

Wenn es ausartet, dann beginnen sich gewisse Muster psychisch einzugraben. Man merkt es anfangs gar nicht. Es passiert über eine lange Zeit und wird dann irgendwann körperlich. Bei mir begann es während des Gymnasiums mit Schweissausbrüchen. Wie du dir vorstellen kannst, ist es relativ unangenehm, wenn man beispielsweise ein Bewerbungsgespräch hat und währenddessen wie ein Weltmeister schwitzt. 70 Prozent von dem, was man kommuniziert, tut  man ja über die Körpersprache und dann passiert das…

G: Hat dir das denn schon mal jemand gesagt – dass du extrem viel schwitzt?

M: Nein, aber manchmal fragt man mich, ob ich heiss habe oder man das Fenster öffnen solle. Man merkt es den Menschen sehr oft auch einfach subtil an, wenn du ihre Körpersprache lesen kannst. Und dann passiert dieser Backlash, bei dem ich zu überlegen beginne, was die anderen über mich denken könnten und so weiter.

G: Ich habe ja den ultimativen Haartick und das ist auch etwas, das immer allen auffällt. Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem man sich nicht mehr darum kümmert, was die anderen denken.

M: [Lacht] Sorry, wenn ich lache, es ist überhaupt kein Auslachen, ich kenne es auch.

G: Ich habe aber gemerkt, dass es den Leuten häufig weniger stark auffällt als einem selbst. Deshalb habe ich vorhin nachgefragt: weil es häufig die eigene Wahrnehmung ist, die einem stresst, und nicht eine tatsächliche Reaktion der anderen.

M: Es ist eben beides. Einerseits wissen die Menschen ja nicht genau, was du denkst. Das gibt einem auch eine gewisse Sicherheit, wenn man in einem Gespräch ist. Andererseits drückst du mit deiner Körpersprache sehr viel aus. Und ich merke immer, wie mich das stresst.

G: Bist du generell ein Mensch, der sich schnell schämt?

M: Das ist eben das Lustige an mir. Auf der einen Seite bin ich ein sehr offener Mensch, der gern mit anderen redet und neue Menschen kennenlernt. Ich bin eigentlich total extrovertiert und dann habe ich auch keine Scham. Aber wenn es um meine Schwächen geht – beispielsweise um die Armut, wenn man in einer einkommensschwachen Familie aufwächst – dann ist es relativ schwierig, das Ganze zu verstecken, weil es doch immer wieder Momente gibt, in denen die Menschen merken: «Ah, die haben wohl nicht so viel Geld». Und in der Schweiz ist Geld eben wichtig und entscheidet darüber, wie man dich beurteilt.

Es ist relativ komplex.

Und dann sind Dinge in meinem Leben passiert, die dazu geführt haben, dass ich mich noch mehr schäme. Beispielsweise habe ich länger gebraucht für mein Studium und nur mit einem Bachelor abgeschlossen. Ich hatte schon meine Gründe, aber trotzdem reicht es nicht, nicht für mich. Ich hatte zudem mal ein Burnout während des Studiums und dann ging wirklich nichts mehr. Aber ich habe eben auch viel Zeit verbraten, viel Zeit vertrödelt… Auch deshalb habe ich viel Scham, weil da viel schiefgelaufen ist. Das ist irgendwo durch ja ein gesellschaftlicher Druck, ein gesellschaftlicher Anspruch.

G: Ich habe das ja auch etwas. Vor allem die Tendenz zu einem moralischen Schwarz-Weiss-Denken und dem Moralisieren von Dingen, die gar keinen moralischen Wert per se haben. So wie das mit deinem Studium.

Und das einzige, was mir half, war es eben, diese Moralvorstellungen zu überdenken. Ich weiss nicht, ob das in dem Sinn dein «Problem» ist. Ich meine, wieso denkst du so – weil du das Gefühl hast, es wird von dir erwartet, oder-

M: Weil es einfach losermässig ist! Jemand, der so lange für sein Studium hat, ist ein Loser, das ist einfach so.

G: Ja, aber das ist ja einfach irgend so eine Vorstellung. Es hat ja schon Gründe, wieso du dich so fühlst, aber du hast ja nicht ständig einfach nichts gemacht.

M: Manchmal aber eben schon. Ich sehe es auch nicht ganz schwarz-weiss, aber trotzdem.

Um das vorherige Thema noch abzuschliessen: Die Attacken wurden schliesslich immer stärker und kamen zum Teil auch in geschlossenen Räumen. Um das Beispiel von vorher nochmals aufzugreifen: Du hast ein Vorstellungsgespräch in einem verdammten geschlossenen Raum mit diversen fremden Menschen, die alle irgendetwas von dir wollen. Da fällt es mir schon schwer zu relativieren. Diese ganzen Ratschläge von wegen mal solle tief in den Bauch atmen, die Füsse spüren… Das hilft mir alles leider nichts. Die Schübe sind zu stark. Der Körper sagt einfach: «Juhuu, jetzt machen wir Sauna!» und das ist dann sehr unangenehm.

Es wurde dann so heftig, dass es begann, mein Leben einzuschränken. So suchte ich mir beispielsweise eine Wohnung in der Nähe, wo ich arbeitete, damit ich nicht mehr pendeln musste, weil das Pendeln für mich furchtbar war.

Man hat ja immer zwei Möglichkeiten: Man kann angreifen, sich einer Situation stellen, oder flüchten. Ich habe mich zwar oft dem Ganzen gestellt, aber manchmal war es so schlimm, dass ich halt auf die Zugstoilette flüchten musste. Diese negativen Entwicklungen wieder umzukehren, ist echt schwierig. Man gelangt so in einen Teufelskreis. Es blockiert einem dermassen, dass man irgendwann auch gesellschaftlich aufs Abstellgleis gelangt, weil man es nicht schafft, in den entscheidenden Momenten seine Coolness zu bewahren.

G: Warst du schon mal in Therapie? Verhaltenstherapie?

M: Ansatzweise in einer  Psychotherapie. Dort lernte ich, dass man sich in so einer Situation auf seinen Körper fokussieren, dann tief durchatmen soll und irgendwann sollte sich das auch wieder legen…Aber eben, geholfen hat es mir nur wenig.

G: Das klingt schon nach Verhaltenstherapie. Aber es ist natürlich nicht so einfach.

M: Ja, das ist gut möglich.

Ich fühle mich auch oft blockiert, wenn ich schreiben möchte, sei es jetzt im Job oder in der Musik, die ich produzieren möchte. Teilweise brauche ich tagelang, um einen kleinen Text zu schreiben. Klar, wirtschaftlich bin ich nicht gut unterwegs und das ist etwas, das meine Situation noch um einiges verschlimmert: Über kein Geld und kein Backup zu verfügen… Das hat doch einen recht starken Einfluss auf die Lebensqualität. Was ich eigentlich bräuchte, ist ein 100 Prozent-Job, wo ich richtig Geld verdienen kann. Aber jedes Mal, wenn ich das bisher versucht habe, wurde ich relativ bald wieder entlassen; meistens, weil man irgendwann keine Arbeit mehr hatte oder weil sich die wirtschaftliche Situation des Unternehmens verschlechterte. Ich verstehe, dass man dann den Neuen kündet, aber das bricht einem jeweils fast das Genick.

G: Hast du dich jemals beraten oder coachen lassen bezüglich deiner beruflichen Zukunft?

M: Weisst du, ich weiss, dass ich es eigentlich kann. Und ich kann es eigentlich auch. Ich brauche einfach mal die Gelegenheit, das auch über eine längere Zeit zu beweisen. Ich habe generell einen guten Output und bekomme gute Feedbacks trotz meiner Einschränkungen bezüglich meiner zum Teil fehlenden Konzentration.

G: Aber vielleicht würde eine Beratung ja trotzdem helfen?

M: Vielleicht. Aber das Problem ist einfach auch, dass ich bei Vorstellungsgesprächen unkontrolliert schwitze. Solange man das nicht plötzlich als Zeichen kompletter Sicherheit wertet, wird das sehr, sehr schwierig werden.

G: Ja, aber jetzt hast du ja auch das Gefühl, dass du mega schwitzt. Klar, du hast etwas rote Backen, aber es ist auch ziemlich warm hier drin. Aus meiner Sicht sieht man dir gar nicht viel an.

M: Klar, die Selbstwahrnehmung ist immer auch eine andere Sicht der Dinge.

G: Und was ist, wenn du bei deiner Selbstwahrnehmung ansetzen würdest? Du weisst, so im Stil von: «fake it till you make it».

M: «Fake it till you make it» ist sehr wertvoll. Aber das mit dem Schwitzen kann ich ja nicht kontrollieren. Das ist einfach ein Programm, das abgespielt wird und das ich nicht geschrieben habe.

G: Ja, das glaube ich dir schon…

M: Du musst mich auch nicht therapieren. Ich erzähl das hier nur, weil das eben eine dieser psychischen Störungen ist, die zwar sehr subtil sind, die das Leben aber auch recht beeinflussen können.

Wieviel wird dein Blog eigentlich gelesen?

G: Hmm, kommt etwas auf den Beitrag an. Manchmal sinds 50 Leute, manchmal 300. Es gab auch schon 2000 LeserInnen für einzelne Beiträge. Aber das kommt auch vor allem darauf an, wie mans promoted.

M: Klar, das ergibt Sinn.

Was ich auch schwierig finde, sind übrigens Beziehungen.

G: Das ist auch ein Thema, das dich beschäftigt?

M: Ja, also beziehungsweise die Frage, inwiefern psychische Probleme da einen Einfluss haben. Vielleicht muss man einfach den perfekten Partner oder die perfekte Partnerin finden…

G: …Das glaube ich kaum…

M: …Ich eben auch nicht, aber ich denke, es gibt da schon gewisse Faktoren, die mitentscheiden, ob du fähig bist, über längere Zeit eine Beziehung zu führen.

G: Ja, das denke ich auch. Beziehungen sind ja auch immer mit viel Arbeit verbunden…

Bist du denn momentan noch in Behandlung?

M: Nein, also es ist so: Ich habe einfach gemerkt, dass ich in Verhandlungssituationen, bei Vorstellungsgesprächen oder im Job Stärke und Selbstbewusstsein gewinnen muss. Und das Schwitzen muss aufhören, das geht einfach nicht. Schon nur, weil es so viel Energie raubt.

G:  Ich kenne jemanden, der in solchen Situationen einen Betablocker nimmt. So was wäre keine Option?

M: Ich möchte das eigentlich gar nicht nehmen. Gegenüber solchen Dingen bin ich einfach misstrauisch . Ich habe das Gefühl, man muss vielmehr die Prozesse in einem drin zu lösen versuchen. Vielleicht im äussersten Fall mit medikamentöser Unterstützung. Aber letzten Endes musst du ja trotzdem dein Hirn dazu bringen, dass diese Prozesse anders laufen. Wenn man sich von Medikamenten abhängig macht, ist das zuerst mal eine mentale Abhängigkeit. Und ich bin extrem suchtgefährdet. Ich habe das Gefühl, wenn ich etwas finden würde, das mir hilft, würde ich es das ganze Leben lang nehmen. Auch wenn das vielleicht ganz eine dumme und arrogante Einstellung ist.

G: Apropos das ganze Leben lang: Was sind deine Pläne – und worauf hoffst du noch?

M: Ich hoffe, dass andere von gleichen oder ähnlichen Symptomen Betroffene mit diesem Gespräch sehen, dass sie nicht alleine sind mit diesem Problem. Für mich hoffe ich, bald einen Job zu finden, der mir endlich Halt gibt. Ein stabiles Umfeld habe ich zum Glück schon; gute Freunde und eine Familie, die mich nehmen, wie ich bin.