Na, hallo und danke fürs Reinschauen!

Willkommen!

Liebe Leser*innen

Zuerst einmal: Hallo und merci, dass ihr euch auf diesen Blog verirrt habt. Vielleicht war’s Zufall, vielleicht habe ich euch selbst hierhin gelotst – ich freue mich auf jeden Fall, euch begrüssen zu dürfen!

Mein Name ist Gina und ich betreibe diesen kleinen Blog. Im normalen Leben bin ich Philosophiestudentin, Wanna-Be Journalistin und Content Producer. Daily Cup of Madness ist ein kleines Projekt von mir, das ich im Sommer 2017 gestartet habe; eine Idee, die aus zahlreichen Begegnungen an der Uni entstanden ist. Ziel ist es, einen Einblick in die Vielfalt und Verbreitung verschiedenster psychischer Leiden zu geben, von denen wir zwar mittlerweile alle irgendwie wissen, dass sie ziemlich häufig vorkommen, die aber immer noch verhältnismässig wenig Aufmerksamkeit erfahren – und denen deshalb nach wie vor viele falsche Informationen und ein grosses Stigma anhaften.

Das Ziel ist es nicht, den Schweregrad und die damit eingehende Behinderung mancher psychischer Krankheiten zu verneinen, sondern aufzuzeigen, dass viele Betroffene nicht nur nach wie vor normale Menschen sind, sondern dass es Wege geben kann, mit einer solchen Krankheit umzugehen; dass die meisten nicht komplett und für immer verrückt sind, sondern man sie nach wie vor als das behandeln kann, was sie sind – Menschen. Hierzu bitte ich Personen, die ihre Erfahrungen mit psychischen Leiden gemacht haben – sei es als selbst davon Betroffene, als Angehörige einer solchen Person oder auf Grund des gewählten Berufs – ihre Erfahrungen mit mir zu teilen. Diese gebe ich dann hier ungeschönigt und ungekürzt wieder. Die betroffenen Personen entscheiden hierbei selbst, in welcher Form sie dies tun möchten: So kann man sowohl mich persönlich treffen und mich anschliessend einen Beitrag darüber verfassen lassen als auch selbst einen Beitrag schreiben (Natürlich kann man auch etwas schreiben und mich treffen!). Die einzigen Bedingungen für das Verfassen eines eigenen Beitrags sind eine gewisse Länge bzw. Kürze (max. 4 A4 Seiten; bei Ausnahmefällen und Interviews auch längere Beiträge möglich) und ein gepflegter Umgangston (Keine ehrverletzenden Beiträge etc.). Ich redigiere selbst geschriebene Beiträge lediglich hinsichtlich Grammatik und Leserlichkeit, belasse sie aber ansonsten so, wie sie geschrieben wurden.

Grundsätzlich sind alle Beiträge anonym gestaltet, auch wenn die Möglichkeit besteht, „sein Gesicht zu zeigen“ (wortwörtlich), wenn das jemand möchte. Das macht’s für alle Beteiligten leichter, ihre Geschichten zu teilen und nimmt allfällige Ängste und Vorbehalte. Um trotzdem ein kleines bisschen von der Neugierde zu befriedigen, die manch einer vielleicht beim Lesen verspürt, gibt’s jeweils – in Anlehnung an den Titel dieses Blogs – ein Foto der Hände der betreffenden Person mit ihrem Lieblingsgetränk.

Das wäre dann mal für’s Erste das Wichtigste. Stay tuned und viel Spass beim Lesen!

Alles Liebe

Gina

*Bitte mitschicken, falls ein selbst geschriebener Beitrag eingeschickt wird und man mich nicht persönlich treffen möchte.

«Wenn sie merkt, dass ich wieder gewisse Symptome zeige, dann erhöhe ich die Medikamente»

Leben und Beziehung mit einer schizoaffektiven Störung – ein Interview mit R* und seiner Partnerin D*

Lieblingsgetränk: Whisky Cola bzw. Energy Drink

R, Wir treffen uns heute bei dir zuhause anstatt in einem Café. Wieso eigentlich?

R: Ich bin in einem Café immer sehr schnell abgelenkt. Da kommen jeweils sehr viele Eindrücke rein und ich bin dann nicht bei der Sache. Deshalb wollte ich mich zuhause treffen: Hier bin ich geerdet und kann mich auf unser Gespräch konzentrieren.

Ist das eine Folge deiner Erkrankung?

R: Ich denke schon. Früher hatte ich das nicht so fest.

Apropos: Was lautet deine Diagnose denn und wie äussert sie sich?

R: Ich wurde mit einer schizoaffektiven Störung diagnostiziert. Das ist ein relativ kompliziertes Krankheitsbild, das sich in meinem Fall auf der einen Seite wie bei einer bipolaren Störung durch manische und depressive Phasen auszeichnet. In den manischen Phasen hat man ein grosses Selbstbewusstsein, das man ansonsten meist nicht hat. Man ist angetrieben, energiegeladen und kann sehr vieles erledigen. In den depressiven Anteilen ist man niedergeschlagen, möchte am liebsten den ganzen Tag im Bett bleiben und leidet teilweise auch unter Suizidgedanken. Dazu kommen Symptome einer Schizophrenie. Das merke ich vor allem dadurch, dass wenn die Krankheit stark ist, ich in einer Welt bin, die für mein Umfeld eigentlich nicht greifbar ist.

Inwiefern – und wie fühlt sich das an?

R: In dieser Welt passieren dann Dinge, die für einen wie real sind, die aber gegen aussen nicht echt sind. Man denkt sich Dinge aus und lebt fast wie in einer Parallelwelt.

Man hat auch sehr viele Themen im Kopf und denkt dann, das sei alles real. Ich dachte zum Beispiel mal, ich sei Ra, der Sonnengott, und hätte die Energie des Ra bekommen.

D, Partnerin von R: Es ist schräg und ein bisschen beängstigend, denn man merkt schon, dass dieses Verhalten jeweils nicht normal ist – das ist nicht die reale Welt.

Hattest du bereits deine Diagnose, R, als ihr euch beide kennengelernt habt? Hast du, D, jemals überlegt, ob du wirklich mit ihm zusammenkommen willst trotz dieser Erkrankung?

R: Ja, ich hatte die Diagnose bereits. Wir kennen uns schon lange, lernten uns aber erst besser kennen, als wir in der gleichen Gugge unterwegs waren. Ich sagte zuerst, ich wolle keine Beziehung und wolle sie zuerst kennenlernen und das war dann auch der richtige Schritt.

D: Ich wusste, dass er psychisch krank ist. Am Anfang merkte ich seine Erkrankung aber noch nicht so fest. Ich wusste auch nicht genau, welche Auswirkungen das haben würde. Aber für mich war das auch nie eine Frage. Ich wollte ihn einfach. Ich dachte, dass wir das schon meistern würden.

Eines Tages kam dann die erste Psychose, die ich miterlebte. Da war ich schon recht vor den Kopf gestossen. Ich wusste auch nicht, was ich tun sollte.

Was hast du dann in dem Moment getan?

D: Ich probierte zuerst, bei seinem Psychiater anzurufen. Leider war der in dem Moment gerade in den Ferien. Ich suchte dann Hilfe bei seiner Mutter, weil die das schon ein paar Mal miterlebt hatte und am ehesten wusste, wie ich reagieren sollte. Sie sagte mir, dass ich ihn in die Klinik bringen sollte.

Ich nehme an, du hast dann versucht, auf R zuzugehen und ihn in die Klinik zu bringen – wie war das für dich, R? Wolltest du überhaupt in die Klinik?

R: Nein, ich wollte früher nie in die Klinik gehen. Mittlerweile gehe ich freiwillig. Man muss dazu sagen, dass ich auch lange Zeit krankheitsuneinsichtig war. Ich führte ja zuerst ein völlig normales Leben, bis ich plötzlich so viele wahnhafte Gedanken hatte, dass man mich eigentlich gegen meinen Willen einweisen musste. Es dauerte dann etwa 10 Jahre, bis ich wirklich begriff, was meine Erkrankung für mein Leben bedeutete, und die Krankheit akzeptieren könnte.

Ich war lange Zeit auch nicht mehr ich selbst. Ich nahm beim ersten Klinkaufenthalt innerhalb von 2-3 Wochen fast 20kg zu wegen den Medikamenten. Die Medikamente waren schon notwendig, aber ich brauchte eine sehr hohe Dosis, damit ich wieder zu mir fand, und die Nebenwirkungen waren dann eben dieses starke Zunehmen.

Ich glaube, diese Medikamente dämpfen einen ja häufig auch sehr und das ist vielleicht auch nicht immer ganz einfach.

R: Genau, die Medikamente legen dich quasi schachmatt, damit du dich wieder erholen kannst. Damit umzugehen ist nicht einfach, weil man schon wegen der Erkrankung nicht mehr sich selbst ist und dann dazu auch wegen der Medikamente nicht. Das war nochmals ein separater Prozess, diese Medikamente zu akzeptieren und auch wirklich regelmässig einzunehmen.

Hast du die Medikamente auch mal abgesetzt?

R: Ja, ich habe sie einmal vollständig abgesetzt, musste dann aber wieder in die Klinik. Seitdem bekomme ich eine alle paar Wochen eine Medikamentenspritze. Dadurch ist die Gefahr des Absetzens viel kleiner.

Wann traten die ersten Symptome deiner Erkrankung eigentlich überhaupt auf?

R: Als ich mal im Internet nachlesen ging, was die Diagnose alles für Symptome beinhaltete, merkte ich, dass ich wohl schon lange krank gewesen war. Ich war als Kind bereits sehr depressiv. Die Manie kam erst später, aber die Depression fing schon in der Kindheit an.

Gab es bei dir einen Moment, wo deine Krankheit sich schlagartig bemerkbar machte oder kam das alles schleichend?

R: Bei mir kippte es, als mein bester Freund starb. Ich hatte schon vorher immer ab und zu gekifft gehabt, aber nach seinem Tod eskalierte es mit dem Rauchen. Ich konnte mich nicht mehr kontrollieren.

Wie äusserte sich dieses «Kippen»?

R: Ich hatte eine Psychose, in der ich die Geschäftsleitung meines damaligen Arbeitgebers massiv verbal attackierte. Ich bin nie körperlich gewalttätig, aber ich sagte viele schlimme Dinge gegenüber dem CEO und den anderen Personen. 1-2 Tage später landete ich dann in der Klinik.

Was auch viel bei mir auftrat, war ein rechthaberisches Getue…

D: …Oh ja!

Ist das jeweils schwierig für dich, D?

D: Ja, in dem Moment schon, denn man kennt ihn eigentlich gar nicht so. Es gibt Situationen, wo er sagt: «Du machst jetzt das und du tust jetzt das» und das ist dann schwierig.

R: Ja, ich versuche dann in den Momenten, anderen Menschen meine Meinung aufzuzwingen und das ist einfach falsch. Das mache ich ansonsten nicht.

D: Ich glaube das Schwierigste ist, dass wir so ein grosses Vertrauen zueinander haben. Und in diesen Momenten sagt oder tut er Dinge, bei denen ich mich fragen muss, ob ich ihm wirklich glauben kann und ob er das wirklich so meint.

Gibt es denn Kriterien, anhand derer du merkst, dass du ihm glauben kannst oder nicht?

D: Es gibt scho Anzeichen, anhand denen ich merke, dass die Probleme beginnen – beispielsweise wenn er gemein wird zu mir. Aber ich frage mich trotzdem immer, ob er das ernst meint.

R: Bei mir ist es eben häufig diese verbale Gewalt, die sehr stark zum Vorschein kommt. Ein weiteres Beispiel aus der Klinik war, dass ich, als ich meinte, ich sei Ra, die Pflegepersonen alle fertigmachte und sagte, sie sollen zurück nach Deutschland gehen und solche Dinge. Manche sagten dann, ich sei ein Rassist. Aber ich habe es in meinen nicht-psychotischen Phasen eigentlich immer mit allen Menschen gut.

D: Ja, ich musste dann wirklich auch erklären, dass er sonst wirklich nicht rassistisch ist.

Man könnte vielleicht denken, dass der Wahn ja nur Dinge verstärkt, die man so oder so schon denkt und dann annehmen, dass du auch sonst ein Rassist bist.

R: Ja, also es gibt tatsächlich gewisse Dinge, die in der Psychose einfach sehr verstärkt werden. Aber das Rassistische gehört da nicht dazu. Mit einigen davon konnte ich jetzt zum Glück abschliessen.

Wie hast du das geschafft?

R: Das ist schwierig zu erklären. Ich bin mal bei einer Person, die Energiearbeit macht, zusammengebrochen. Und sie hat mir dann erklärt, dass sie zwei schwarze Gestalten aus mir herausziehen konnte – fast wie bei einem Exorzismus. 1-2 Jahre später merkte ich dann, dass einige dieser sich immer in meinen Psychosen wiederholenden Themen wie weg waren.

P: Ich glaube, das, was immer wieder in deinen Psychosen aufkam, war der Tod deines besten Freundes. Nach diesem Erlebnis bei der Energiearbeit war das aber plötzlich kein Thema mehr.

R: Ja, das hatte ich wirklich 15 Jahre mit mir herumgetragen. In der Psychose steigert man sich dann in ganz merkwürdige Dinge hinein. Ich dachte zum Beispiel, dass ich vielleicht mit seiner Seele etwas anstellen konnte – dass ich wieder machen könnte, dass sie auf die Erde zurückkommt. Man denkt dann auch, dass das, was man denkt, real werden kann.

Wie geht man am besten mit dir um, wenn du in einer psychotischen Phase bist? Du hast mehrmals gesagt, dass du immer auch wieder verbale Gewalt anwendest, wenn du in einer Psychose bist – kann das auch mal gefährlich werden?

R: Bis jetzt habe ich noch nie jemanden angegriffen. Natürlich ist das schwierig zu beurteilen als betroffene Person. Ich kann es in dem Sinne nicht ausschliessen. Aber mit diesen Medikamenten, die ich zurzeit nehme, kann ich mir das nicht vorstellen, besonders auch, weil ich Gewalt als Ausdrucksform von mir selbst gar nicht kenne.

D: Sie haben mich auch in der Klinik immer wieder gefragt, ob ich Angst habe vor ihm, aber ich habe immer gesagt, dass ich keine Angst habe. Er schreit mich vielleicht an und verletzt mich verbal, aber würde mich niemals körperlich angreifen.

Wie gehst du, D, als seine Partnerin, allgemein damit um, wenn er so eine Phase hat?

D: Es ist hart. Am Anfang war es aber härter. Ich weinte oft und verstand die Welt nicht mehr. Aber jede Psychose, die er gehabt hat, hat mich stärker gemacht. Früher wollte ich am liebsten immer weinen, wenn ich ihn in die Psychiatrie bringen musste, aber bei der letzten Psychose, die wirklich auch schlimm war, war ich froh, mal einen Moment durchatmen zu können.

R: Inzwischen isoliere ich mich auch selbst, wenn ich merke, dass wieder ein Schub kommt. Wir haben auch eine Patientenverfügung aufsetzen lassen und wenn sie merkt, dass ich wieder gewisse Symptome zeige, dann erhöhe ich die Medikamente. Und wenn sie zusammen mit meinem Psychiater sagt, dass ich in die Klinik muss, dann gehe ich auch in die Klinik.

Wie gehst du mit Vorurteilen dir gegenüber um, R?

R: Ich nehme sie gar nicht so wahr. Ich weiss schon, dass es Menschen gibt, die mich nicht so mögen, aber auf die lass ich mich gar nicht so gross ein. Ich habe lieber die Menschen um mich herum, die auf mich zugehen und mit mir sprechen.

Siehst du bezüglich Vorurteilen auch eine Veränderung in der Gesellschaft?

R: Die Dinge haben sich in den letzten 20-30 Jahren schon sehr geändert. Die Akzeptanz ist gestiegen, besonders auch mit den ganzen Medikamenten. Früher warst du in der Klinik und bist da geblieben. Heute kann man wieder in sein Umfeld zurück und kann sich im Internet schlau machen über alles.

Ich glaube, man darf sich auch selbst nicht fallen lassen. Ich habe mich beispielsweise von Anfang an wieder bemüht, einen Job zu finden.

Ist bei deiner jetzigen Arbeitsstelle denn bekannt, was du hast?

R: Ja, das erwähnte ich bereits im Vorstellungsgespräch. Man sagte mir, dass wir einfach uns gut verstehen müssten und der Rest käme dann schon gut. Sie sind sehr verständnisvoll und wir bemühen uns beide: Ich erbringe meine Leistung und sie kommen mir entgegen, wenn ich zwei Wochen krankgeschrieben werden muss.

Was kann man von deinem Arbeitgeber im Umgang mit Personen mit psychischen Erkrankungen lernen?

R: Ich denke, wenn man jemanden wie mich anstellt, muss man sich einfach bewusst sein, dass es viele Absenzen geben wird. Wichtig ist auch, dass man im Geschäft eine zentrale Ansprechperson hat, bei der man alles deponieren kann und die sich nicht nur die Leistung anschaut. Man muss letztlich sicher wissen, auf was man sich einlässt. Deshalb sage ich bei Vorstellungsgesprächen immer: «Googlet am besten mal die Krankheit».

Ideal ist zudem, denke ich, ein Job, bei dem man als Mitarbeiter zwar wichtig ist, aber nicht so wichtig, dass es zu grossen Problemen kommt, wenn man 1-2 Tage fehlt.

Zum Abschluss: Was würdest du Personen, die in einer ähnlichen Situation sind wie du, raten?

R: Man muss an sich glauben, auch wenn das schwierig ist. Man muss sich bewusstwerden, was man für Ressourcen hat. Denn ich bin überzeugt: Jeder Menschen hat Ressourcen.

Schizoaffektive Störung: Bei einer schizoaffektiven Störung treten episodisch sowohl Symptome einer Schizophrenie - beispielsweise psychotische Symptome - als auch wesentliche Stimmungssymptome wie bei einer Depression oder bipolaren Störung auf1.

Quelle:

1https://www.msdmanuals.com/de/profi/psychische-st%C3%B6rungen/schizophrenie-und-verwandte-st%C3%B6rungen/schizoaffektive-st%C3%B6rung [Letzter Besuch: 20.01.2021].

„Für mich war die Borderline-Diagnose eine Erleichterung, weil ich nun einen Namen für so vieles hatte“

Ein bewegtes junges Leben mit Borderline, Trauma und Depression

Lieblingsgetränk: Monster Energy Drink

Du hast bereits eine recht bewegte Lebensgeschichte, obwohl du noch ziemlich jung bist. Könntest du etwas davon erzählen?

T: Es fing alles in der Primarschule an. Dort wurde ich von der dritten Klasse an mal mehr, mal weniger gemobbt. Das Ganze zog sich ungefähr bis in die sechste Klasse durch. Danach wechselte ich in die Oberstufe und hoffte, dass es dadurch besser werden würde, aber das war dann leider nicht der Fall.

Ich war immer die Jüngste und hatte daher auch nie die gleichen Interessen wie die anderen; Schminke und all das Zeugs interessierten mich nicht wirklich. Es war aber deshalb auch nicht schwierig, mich anzugreifen, weil ich es einfach über mich ergehen liess. Meine Lehrer taten auch nie etwas dagegen oder machten es zum Teil sogar schlimmer, indem sie blöde Sprüche rissen.

Kurz darauf fingen die ersten depressiven Episoden an. Damals verstand ich noch nicht genau, was mit mir los war. Ich hatte vorher schon viele somatische Beschwerden. Oft war mir schlecht oder ich hatte Bauchschmerzen, wenn ich in die Schule musste.

Als ich meine Lehre antrat, hoffte ich wieder, dass es besser werden würde. Meine Klasse war wirklich auch gut. Aber im Lehrbetrieb war es schwierig. Ich wurde zum Beispiel recht schnell mit den Kund*innen alleine gelassen, obwohl ich eigentlich noch nicht bereit war dafür. Ich bekam auch nicht wirklich Unterstützung beim Lernen und musste mir sehr viel selbst beibringen.

In dieser Zeit zog mein erstes Pflegepferd weg, knapp ein Jahr später starb mein zweites. Das zog mich nochmals runter. Auch zuhause war es nicht einfach. Es herrschte oft eine angespannte Stimmung und das übertrug sich dann auf mich, obwohl ich eigentlich gar nichts damit zu tun hatte.

Am Anfang kam alles phasenweise. Dazwischen gab es immer wieder auch gute Zeiten. Etwa im letzten Lehrjahr ging es dann gar nicht mehr weg, sondern war einfach manchmal schlechter und manchmal weniger schlecht.

Ich konnte die Lehre noch abschliessen, fiel aber danach richtig in ein Loch, wahrscheinlich, weil der Druck weg war. Meine neue Stelle klang anfangs perfekt, war dann aber auch nicht toll. Mein Chef war sehr temperamentvoll und launisch und wenn irgendwas nicht so lief, wie er wollte, schrie, fluchte oder warf er Dinge in der Gegend herum. Er war auch sehr beleidigend im Umgang mit uns Angestellten. Das ging so weit, dass ich mich nicht einmal traute, etwas nachzufragen. Ich blieb schliesslich nur zwei Monate, weil ich merkte, dass es mir immer schlechter ging. Da fing es auch wieder mit ganz schlimmen Magenschmerzen an.

Ich suchte wieder eine neue Stelle und fand auch bald eine, hatte aber dann das Pfeifferische Drüsenfieber, weshalb sich mein Antritt um einen Monat verzögerte. Auch hier war es zwischenmenschlich schwierig mit meinem Chef. Zum Beispiel machte er vor den Kund*innen immer blöde Bemerkungen, wenn ich etwas nicht so machte, wie er es wollte. Er hatte sehr hohe Ansprüche, da er mich ständig mit seiner anderen langjährigen Angestellten verglich. Ich kündete nach drei Monaten wieder. Ich konnte am Morgen und Mittag irgendwann gar nicht mehr essen, weil mir dermassen schlecht war, wenn ich zur Arbeit gehen musste.

Ich habe jetzt seit etwa 6 Jahren psychische Probleme. Ich ging aber erst vor etwa zwei Jahren zu einer Psychologin. Am Anfang hat man fast gar keine Kraft, um Hilfe zu suchen. Und teilweise ging es mir ja auch wieder besser, weshalb man dann schnell denkt: «Ah, es ist ja alles gut, wieso sollte ich mir Hilfe suchen». Man belügt sich lange Zeit selbst.

Auch bei der Psychologin machte ich schwierige Erfahrungen. Sie pochte immer auf mein Daheim. Jedes Mal ging es immer nur um das, obwohl mich auch andere Dinge beschäftigten. Immer öfters musste ich mich rechtfertigen und verteidigen. Aus diesem Grund und weil es mir irgendwann so schlecht ging, dass ich das Gefühl hatte, dass ich Medikamente bräuchte, wechselte ich zu einem Psychiater. Ich denke schon, dass das etwas gebracht hat. Was ich schwierig fand, war aber, dass der Psychiater und der Oberarzt bereits nach der dritten Sitzung eine Tagesklinik vorschlugen und das Gefühl hatten, sie wüssten, was das Beste für mich wäre. Der Oberarzt redete auch stark auf mich ein und sagte mir, dass ich selbst etwas tun müsse, damit es mir wieder besser gehe – was ich ja da schon tat. Dabei hatte ich nur gesagt habt, dass ich das jetzt nicht gleich entscheiden könne. Mein Psychiater wollte mir schliesslich auch keinen Termin mehr geben bis ich mich entschieden hatte und das fand ich recht falsch. Letzten Endes ging ich dann nach zweimaligem Schnuppern in die Tagesklinik, aber ich fühlte mich vor den Kopf gestossen.

Ich kam dann also in die Tagesklinik. Dort gab es eine Assistenzärztin, die sehr lieb war. Ich fühlte mich auch etwas mehr verstanden, weil sie insbesondere auf meine traumatischen Erfahrungen einging.

Dort kam dann das Thema Borderline auf. Ich las ein Buch, das mir empfohlen worden war, und erkannte mich darin ziemlich wieder. Meine Bezugsperson meinte nach zwei Wochen, dass man das Kind beim Namen nennen sollte und für mich war dann klar: Okay, ich habe Borderline.

Die Assistenzärztin meinte dann aber eine Woche später wieder, dass ich nicht Borderline hätte, sondern einfach gewisse Persönlichkeitszüge in die Richtung. Das war für mich natürlich schwierig, weil sie unterschiedliche Dinge sagten. In dieser Zeit starb auch noch meine Hündin, welche mir sehr viel Halt gegeben hatte. Das traf mich sehr hart.

Nach etwa vier Monaten in der Tagesklinik wechselte ich in eine spezielle Therapie für chronisch Depressive – «CBASP» nennt sich das. Diese fand stationär statt und dauerte drei Monate.

Da kam dann das Thema Borderline wieder auf, da es für mich etwas schwierig war, wenn ich keine Gewissheit bezüglich meiner Diagnose hatte. Wir beschlossen, es genau abzuklären und es kam heraus, dass ich wirklich Borderline habe.

Für mich war die Borderline-Diagnose eigentlich eine Erleichterung, weil ich nun einen Namen für so vieles hatte und es für mich doch einiges erklärte.

Ich warte nun seit gut zwei Jahren auf einen Bescheid der IV, für die ich mich im Verlauf der Tagesklinik angemeldet hatte. Nebst einer Psychologin habe ich jetzt auch eine Spitex, die einmal oder zweimal in der Woche vorbeikommt, um Stressbewältigungsskills zu üben und Wochenpläne zu machen. Bald gehe ich auch wieder in die Klinik, um noch eine Traumatherapie zu machen.

Du bist noch sehr jung – wieso hast du trotzdem bereits eine IV beantragt?

Es geht darum, dass ich mit einer Art Aufbautraining beim Arbeiten unterstützt werden möchte. Da fängt man mit 2-3h pro Tag an, kann dann schrittweise erhöhen, und ist dabei immer in einem geschützten Rahmen. Denn irgendwo durch habe ich auch Angst, wieder ins Arbeitsleben einzutreten, weil ich weiss, dass ich solche Erfahrungen wie beim letzten Mal nicht nochmals ertrage und ich einfach Unterstützung brauche, um im Arbeitsmarkt wieder Fuss zu fassen.

Mit der IV ging es bis jetzt leider nicht so vorwärts, was anstrengend und frustrierend ist. Ich bin seit fast 2 Jahren arbeitslos und mein Krankentaggeld läuft bald aus. Dann muss ich aufs Sozialamt, was ich eigentlich nicht möchte. Auf eine Art und Weise macht es mich wütend, dass ich nicht weiss, woran ich bin. Man fühlt sich so verloren und im Stich gelassen, auch wenn ich weiss, dass sie viele Fälle und nur ein begrenztes Budget haben. Bis zu einem gewissen Grad ist es aber auch einfach eine Frage der Politik.

Du leidest u.a. an einer sogenannten «double depression»: Einer chronischen Depression mit intermittierenden depressiven Phasen. Wie fühlt sich so eine chronische Depression an und was ändert sich, wenn noch eine zusätzliche depressive Episode hinzukommt?

Einen ganzen Tag gut geht es mir nie. Die Kombination von chronischer Depression und depressiven Episoden führt eigentlich dazu, dass man nie ganz beschwerdefrei ist und es dann aber auch immer Episoden gibt, bei denen es einem besonders schlecht geht.

Wie stehen die Heilungschancen?

In der Klinik sagte man, Depressionen seien gut behandelbar. Chronische Depressionen sind aber leider sehr hartnäckig. Ich habe aber schon so lange Depressionen, dass ich selbst kaum an Heilung glaube. Später kamen ja dann noch die Diagnosen Borderline und das Trauma hinzu. Die Borderline-Störung wird wohl nie mehr weggehen. Ich kann einfach nur lernen damit umzugehen. Und das mit dem Trauma wird sich nach erfolgter Therapie zeigen.

Du hast Fachpersonal, das dich unterstützt. Aber hast du auch ein Umfeld, das dich mitträgt?

Es ist für ein Umfeld allgemein schwierig, wenn jemand psychische Probleme hat. Bei mir es besonders schwierig, weil ich dieses Emotional-Instabile habe, oft überfordert bin und nicht weiss, wie ich reagieren muss und dann oft nicht weiss, was ich sagen oder tun soll.

Es kommen auch nicht alle damit klar. Ich lerne oft Leute übers Internet kennen und teilweise verliert sich der Kontakt dann einfach wieder. Ich habe auch die Tendenz, selbst Menschen mit psychischen Problemen anzuziehen und das verträgt sich leider oft nicht so gut.

Einer deiner anderen Diagnosen, der Borderline-Erkrankung, haftet ein unter den psychischen Krankheiten in meinen Augen ganz besonders grosses Stigma an: Borderliner gelten als manipulativ, zerstörerisch, egoistisch. Was hältst du davon?

Es gibt natürlich solche Menschen. Aber das Spektrum ist dermassen gross, dass ich selbst als Betroffene manchmal gar nicht wirklich draus komme. Teilweise treffe ich andere mit Borderline und bin schockiert, wie unterschiedlich wir sind und doch dieselbe Krankheit haben.

Manche kennen die Krankheit auch gar nicht. Ich habe vor kurzem eine Kollegin wiedergetroffen, mit der ich lange keinen Kontakt hatte. Sie wusste, dass ich psychische Probleme habe, aber als ich ihr dann sagte, dass ich Borderline habe, war sie so: «Öh, Borderline?». Dabei ist das doch die Krankheit, bei der immer alle sofort sagen: «Woah, Borderline».

Erlebst du das Stigma auch im Alltag?

Wenn ich sage, dass ich Borderline habe, kommt halt schon eine andere Reaktion als wenn ich sage, ich sei depressiv. Nicht unbedingt im Stil von: «Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben», aber wie soll ich sagen… Depressionen sind schon scheisse und Borderline ist eben noch mehr scheisse.

Dann gibt es natürlich auch Menschen, die psychische Probleme allgemein nicht verstehen und einfach kein Verständnis haben. Das führt wiederum zu Problemen und da halte ich mich jeweils von fern.

Aber es gibt ja auch ganz tolle Menschen mit viel Empathie.

Was kann man in deinen Augen tun, um dem Stigma zu begegnen?

Ich hatte vor kurzem diese Diskussion mit meiner Spitexfrau, die meinte, ich solle den Menschen, die ich noch nicht kenne, nicht zu früh von meinen Problemen erzählen. Ich fragte sie dann, was ich denn tun solle, wenn mich jemand danach frage, als was ich arbeite. Sie meinte, ich könne ja zur Not lügen, aber das stimmt für mich so nicht. Ausserdem muss ich dann plötzlich in einem Jahr sagen: «He, ich habe übrigens massive psychische Probleme» und das ist dann auch blöd. Aus diesem Grund bin ich eigentlich von Anfang an immer recht offen.

Das Thema wird halt auch nicht thematisiert und irgendwie ist es auch zu wenig präsent. Ich denke, wenn man mehr darüber reden würde, hätten auch Menschen, die selbst keine Erkrankung haben, mehr Verständnis dafür.

Auf was hoffst du für die Zukunft?

Dass es mir wieder besser geht und dass ich wieder arbeiten kann. Aber ich mache mir nicht viele Gedanken über die Zukunft – weil es mich traurig macht.

Natürlich wünsche ich mir auch für alle Betroffenen psychischer Erkrankungen mehr Akzeptanz und Verständnis in der Gesellschaft.

Borderline-Persönlichkeitsstörung: Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung handelt es sich, wie der Name schon sagt, um eine Persönlichkeitserkrankung. Betroffene zeigen oftmals eine starke emotionale Labilität, haben Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl oder in zwischenmenschlichen Beziehungen. Das genaue Krankheitsbild variiert von Person zu Person1.

Doppeldepression: Eine sogenannte "double depression" oder "Doppeldepression" liegt dann vor, wenn eine Person mit chronischer Depression zusätzlich eine Episode schwerer Depression erlebt2.

Quellen: 
1https://www.promentesana.ch/de/wissen/psychische-krankheiten/krankheitsbilder/borderline-persoenlichkeitsstoerung.html
2https://de.wikipedia.org/wiki/Dysthymie

„Der Körper sagt einfach: ‚Juhuu, jetzt machen wir Sauna!‘ und das ist dann sehr unangenehm“

Ein freier Dialog über das Leben, Ängste und den Umgang mit beidem

Screenshot_20200716-094203~2

Lieblingsgetränk: Machiatto Freddo

G: Wie haben deine psychischen Probleme angefangen und wann wurden sie zum Problem?

M*: Die Scheidung meiner Eltern hatte Auswirkungen. Da war ich acht Jahre alt. Vor allem das «Downgrading» war schwierig. Wir hatten in einem Haus mit viel Umschwung gewohnt und mussten dann in eine Wohnung umziehen. Und wenn du für die Schule Kleider aus der Brockenstube  anziehen musst, die uncool und unmodisch sind, und du dafür gemobbt wirst… Nun, all das löste in mir eine grosse Scham aus.

Wenn es ausartet, dann beginnen sich gewisse Muster psychisch einzugraben. Man merkt es anfangs gar nicht. Es passiert über eine lange Zeit und wird dann irgendwann körperlich. Bei mir begann es während des Gymnasiums mit Schweissausbrüchen. Wie du dir vorstellen kannst, ist es relativ unangenehm, wenn man beispielsweise ein Bewerbungsgespräch hat und währenddessen wie ein Weltmeister schwitzt. 70 Prozent von dem, was man kommuniziert, tut  man ja über die Körpersprache und dann passiert das…

G: Hat dir das denn schon mal jemand gesagt – dass du extrem viel schwitzt?

M: Nein, aber manchmal fragt man mich, ob ich heiss habe oder man das Fenster öffnen solle. Man merkt es den Menschen sehr oft auch einfach subtil an, wenn du ihre Körpersprache lesen kannst. Und dann passiert dieser Backlash, bei dem ich zu überlegen beginne, was die anderen über mich denken könnten und so weiter.

G: Ich habe ja den ultimativen Haartick und das ist auch etwas, das immer allen auffällt. Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem man sich nicht mehr darum kümmert, was die anderen denken.

M: [Lacht] Sorry, wenn ich lache, es ist überhaupt kein Auslachen, ich kenne es auch.

G: Ich habe aber gemerkt, dass es den Leuten häufig weniger stark auffällt als einem selbst. Deshalb habe ich vorhin nachgefragt: weil es häufig die eigene Wahrnehmung ist, die einem stresst, und nicht eine tatsächliche Reaktion der anderen.

M: Es ist eben beides. Einerseits wissen die Menschen ja nicht genau, was du denkst. Das gibt einem auch eine gewisse Sicherheit, wenn man in einem Gespräch ist. Andererseits drückst du mit deiner Körpersprache sehr viel aus. Und ich merke immer, wie mich das stresst.

G: Bist du generell ein Mensch, der sich schnell schämt?

M: Das ist eben das Lustige an mir. Auf der einen Seite bin ich ein sehr offener Mensch, der gern mit anderen redet und neue Menschen kennenlernt. Ich bin eigentlich total extrovertiert und dann habe ich auch keine Scham. Aber wenn es um meine Schwächen geht – beispielsweise um die Armut, wenn man in einer einkommensschwachen Familie aufwächst – dann ist es relativ schwierig, das Ganze zu verstecken, weil es doch immer wieder Momente gibt, in denen die Menschen merken: «Ah, die haben wohl nicht so viel Geld». Und in der Schweiz ist Geld eben wichtig und entscheidet darüber, wie man dich beurteilt.

Es ist relativ komplex.

Und dann sind Dinge in meinem Leben passiert, die dazu geführt haben, dass ich mich noch mehr schäme. Beispielsweise habe ich länger gebraucht für mein Studium und nur mit einem Bachelor abgeschlossen. Ich hatte schon meine Gründe, aber trotzdem reicht es nicht, nicht für mich. Ich hatte zudem mal ein Burnout während des Studiums und dann ging wirklich nichts mehr. Aber ich habe eben auch viel Zeit verbraten, viel Zeit vertrödelt… Auch deshalb habe ich viel Scham, weil da viel schiefgelaufen ist. Das ist irgendwo durch ja ein gesellschaftlicher Druck, ein gesellschaftlicher Anspruch.

G: Ich habe das ja auch etwas. Vor allem die Tendenz zu einem moralischen Schwarz-Weiss-Denken und dem Moralisieren von Dingen, die gar keinen moralischen Wert per se haben. So wie das mit deinem Studium.

Und das einzige, was mir half, war es eben, diese Moralvorstellungen zu überdenken. Ich weiss nicht, ob das in dem Sinn dein «Problem» ist. Ich meine, wieso denkst du so – weil du das Gefühl hast, es wird von dir erwartet, oder-

M: Weil es einfach losermässig ist! Jemand, der so lange für sein Studium hat, ist ein Loser, das ist einfach so.

G: Ja, aber das ist ja einfach irgend so eine Vorstellung. Es hat ja schon Gründe, wieso du dich so fühlst, aber du hast ja nicht ständig einfach nichts gemacht.

M: Manchmal aber eben schon. Ich sehe es auch nicht ganz schwarz-weiss, aber trotzdem.

Um das vorherige Thema noch abzuschliessen: Die Attacken wurden schliesslich immer stärker und kamen zum Teil auch in geschlossenen Räumen. Um das Beispiel von vorher nochmals aufzugreifen: Du hast ein Vorstellungsgespräch in einem verdammten geschlossenen Raum mit diversen fremden Menschen, die alle irgendetwas von dir wollen. Da fällt es mir schon schwer zu relativieren. Diese ganzen Ratschläge von wegen mal solle tief in den Bauch atmen, die Füsse spüren… Das hilft mir alles leider nichts. Die Schübe sind zu stark. Der Körper sagt einfach: «Juhuu, jetzt machen wir Sauna!» und das ist dann sehr unangenehm.

Es wurde dann so heftig, dass es begann, mein Leben einzuschränken. So suchte ich mir beispielsweise eine Wohnung in der Nähe, wo ich arbeitete, damit ich nicht mehr pendeln musste, weil das Pendeln für mich furchtbar war.

Man hat ja immer zwei Möglichkeiten: Man kann angreifen, sich einer Situation stellen, oder flüchten. Ich habe mich zwar oft dem Ganzen gestellt, aber manchmal war es so schlimm, dass ich halt auf die Zugstoilette flüchten musste. Diese negativen Entwicklungen wieder umzukehren, ist echt schwierig. Man gelangt so in einen Teufelskreis. Es blockiert einem dermassen, dass man irgendwann auch gesellschaftlich aufs Abstellgleis gelangt, weil man es nicht schafft, in den entscheidenden Momenten seine Coolness zu bewahren.

G: Warst du schon mal in Therapie? Verhaltenstherapie?

M: Ansatzweise in einer  Psychotherapie. Dort lernte ich, dass man sich in so einer Situation auf seinen Körper fokussieren, dann tief durchatmen soll und irgendwann sollte sich das auch wieder legen…Aber eben, geholfen hat es mir nur wenig.

G: Das klingt schon nach Verhaltenstherapie. Aber es ist natürlich nicht so einfach.

M: Ja, das ist gut möglich.

Ich fühle mich auch oft blockiert, wenn ich schreiben möchte, sei es jetzt im Job oder in der Musik, die ich produzieren möchte. Teilweise brauche ich tagelang, um einen kleinen Text zu schreiben. Klar, wirtschaftlich bin ich nicht gut unterwegs und das ist etwas, das meine Situation noch um einiges verschlimmert: Über kein Geld und kein Backup zu verfügen… Das hat doch einen recht starken Einfluss auf die Lebensqualität. Was ich eigentlich bräuchte, ist ein 100 Prozent-Job, wo ich richtig Geld verdienen kann. Aber jedes Mal, wenn ich das bisher versucht habe, wurde ich relativ bald wieder entlassen; meistens, weil man irgendwann keine Arbeit mehr hatte oder weil sich die wirtschaftliche Situation des Unternehmens verschlechterte. Ich verstehe, dass man dann den Neuen kündet, aber das bricht einem jeweils fast das Genick.

G: Hast du dich jemals beraten oder coachen lassen bezüglich deiner beruflichen Zukunft?

M: Weisst du, ich weiss, dass ich es eigentlich kann. Und ich kann es eigentlich auch. Ich brauche einfach mal die Gelegenheit, das auch über eine längere Zeit zu beweisen. Ich habe generell einen guten Output und bekomme gute Feedbacks trotz meiner Einschränkungen bezüglich meiner zum Teil fehlenden Konzentration.

G: Aber vielleicht würde eine Beratung ja trotzdem helfen?

M: Vielleicht. Aber das Problem ist einfach auch, dass ich bei Vorstellungsgesprächen unkontrolliert schwitze. Solange man das nicht plötzlich als Zeichen kompletter Sicherheit wertet, wird das sehr, sehr schwierig werden.

G: Ja, aber jetzt hast du ja auch das Gefühl, dass du mega schwitzt. Klar, du hast etwas rote Backen, aber es ist auch ziemlich warm hier drin. Aus meiner Sicht sieht man dir gar nicht viel an.

M: Klar, die Selbstwahrnehmung ist immer auch eine andere Sicht der Dinge.

G: Und was ist, wenn du bei deiner Selbstwahrnehmung ansetzen würdest? Du weisst, so im Stil von: «fake it till you make it».

M: «Fake it till you make it» ist sehr wertvoll. Aber das mit dem Schwitzen kann ich ja nicht kontrollieren. Das ist einfach ein Programm, das abgespielt wird und das ich nicht geschrieben habe.

G: Ja, das glaube ich dir schon…

M: Du musst mich auch nicht therapieren. Ich erzähl das hier nur, weil das eben eine dieser psychischen Störungen ist, die zwar sehr subtil sind, die das Leben aber auch recht beeinflussen können.

Wieviel wird dein Blog eigentlich gelesen?

G: Hmm, kommt etwas auf den Beitrag an. Manchmal sinds 50 Leute, manchmal 300. Es gab auch schon 2000 LeserInnen für einzelne Beiträge. Aber das kommt auch vor allem darauf an, wie mans promoted.

M: Klar, das ergibt Sinn.

Was ich auch schwierig finde, sind übrigens Beziehungen.

G: Das ist auch ein Thema, das dich beschäftigt?

M: Ja, also beziehungsweise die Frage, inwiefern psychische Probleme da einen Einfluss haben. Vielleicht muss man einfach den perfekten Partner oder die perfekte Partnerin finden…

G: …Das glaube ich kaum…

M: …Ich eben auch nicht, aber ich denke, es gibt da schon gewisse Faktoren, die mitentscheiden, ob du fähig bist, über längere Zeit eine Beziehung zu führen.

G: Ja, das denke ich auch. Beziehungen sind ja auch immer mit viel Arbeit verbunden…

Bist du denn momentan noch in Behandlung?

M: Nein, also es ist so: Ich habe einfach gemerkt, dass ich in Verhandlungssituationen, bei Vorstellungsgesprächen oder im Job Stärke und Selbstbewusstsein gewinnen muss. Und das Schwitzen muss aufhören, das geht einfach nicht. Schon nur, weil es so viel Energie raubt.

G:  Ich kenne jemanden, der in solchen Situationen einen Betablocker nimmt. So was wäre keine Option?

M: Ich möchte das eigentlich gar nicht nehmen. Gegenüber solchen Dingen bin ich einfach misstrauisch . Ich habe das Gefühl, man muss vielmehr die Prozesse in einem drin zu lösen versuchen. Vielleicht im äussersten Fall mit medikamentöser Unterstützung. Aber letzten Endes musst du ja trotzdem dein Hirn dazu bringen, dass diese Prozesse anders laufen. Wenn man sich von Medikamenten abhängig macht, ist das zuerst mal eine mentale Abhängigkeit. Und ich bin extrem suchtgefährdet. Ich habe das Gefühl, wenn ich etwas finden würde, das mir hilft, würde ich es das ganze Leben lang nehmen. Auch wenn das vielleicht ganz eine dumme und arrogante Einstellung ist.

G: Apropos das ganze Leben lang: Was sind deine Pläne – und worauf hoffst du noch?

M: Ich hoffe, dass andere von gleichen oder ähnlichen Symptomen Betroffene mit diesem Gespräch sehen, dass sie nicht alleine sind mit diesem Problem. Für mich hoffe ich, bald einen Job zu finden, der mir endlich Halt gibt. Ein stabiles Umfeld habe ich zum Glück schon; gute Freunde und eine Familie, die mich nehmen, wie ich bin.

„Bis heute halte ich das ‚Müssen‘ nicht gut aus – und das ‚Sport machen müssen‘ noch viel weniger“

Über Leistungssport und Identität

Sara_crop

Lieblingsgetränk: Kaffee mit viel Milch


Gina: Du hast sehr lange Leistungssport betrieben – wie sah dein Leben da aus?

S: Ich bin sehr jung zum Kunstturnen gekommen. Mit etwa 5 Jahren trat ich in einen Verein ein und wurde dann auch recht jung bereits immer wieder vom Leistungscenter angefragt, weil ich gewisse Resultate an den Wettkämpfen brachte. Ich trat schliesslich erst mit 12 ins Leistungscenter ein, was verhältnismässig spät ist.

Von da an trainierte ich im Leistungscenter und besuchte daneben die normale Schule. Es fühlte sich ein bisschen wie ein Doppelleben an. Wenn man meine Freunde oder meine Familie fragt, dann bin ich in dieser Zeit wohl in Erinnerung als die, die häufig nicht dabei sein konnte.

Im Leistungscenter hatte ich anfangs ziemlich Mühe, weil ich vor allem technikmässig durch meinen späten Eintritt vier, fünf Jahre Rückstand hatte. Ich kam mir damals sehr ungenügend vor und es war auch schwierig, in die bestehende Gruppe reinzukommen, weil das ein bisschen wie ein Clan war, da die anderen schon 4 bis 5 Jahre zusammen trainiert hatten. Ich machte dann aber grosse Fortschritte und konnte an die Juniorinnen-EM gehen und das ist bis heute eines meiner Highlights.

Nach einigen Jahren kam dann die Anfrage für das nächsthöhere Leistungscenter. Im Kunstturnen ist man ab 16 bei der Elite. Das ist eigentlich auch die Zeit des körperlichen Peaks. Dabei gleichzeitig einem sich stark verändernden Körper gerecht zu werden, ist wirklich schwierig. Seit ich 14 war, war der Körper eigentlich immer Dauerthema. Ich hörte da das erste Mal, dass ich wegen meines Gewichts schauen muss und das hat mich verfolgt – teilweise bis heute.

Aber wieso muss man denn so dünn sein – ist das wie bei den Marathonläufern, wo jedes zusätzliche Kilo eines mehr ist, das man rumschleppen muss, oder sind es primär ästhetische Gründe?

Es ist eben beides. Einerseits kann man weniger gut springen und sich rumschwingen, wenn man mehr wiegt. Ausserdem sind die Bewegungen im Kunstturnen automatisiert, weshalb man auch darauf angewiesen ist, dass der Körper mehr oder weniger derselbe bleibt. Ansonsten muss man alles ein bisschen umlernen.

Kunstturnen gehört aber auch zu den ästhetischen Sportarten wie Ballett, rhythmische Sportgymnastik oder Eiskunstlaufen. Da spielt das Aussehen eine grosse Rolle. Wenn man im Fernsehen schaut, dann tragen die Sportlerinnen hautenge Tenus, man sieht einfach alles.

Wie ging es dann weiter?

Ich kam mit 15 ins höhere Leistungscenter, musste mich wieder in eine neue Gruppe einfügen. Gleichzeitig wechselte ich auch die Schule und hatte nicht so viel Konstanz in meinem Leben.

Die letzte Zeit vor meinem Rücktritt war fast die spannendste. Am Morgen hatte man jeweils 2 Stunden Training und am Nachmittag nochmals 3, d.h. das machte schon mal 20 Stunden. Am Samstag hatten wir meist nur ein kurzes Training, weil viele, die nicht aus der Region kamen, am Wochenende jeweils heimfahren wollten. Dafür fing es schon um 08:30 Uhr an.

Den Rest der Zeit verbrachte ich in der Schule, mit Pendeln und Lernen. Es gab nicht viel Zeit nebendran für anderes und auch nur 4 Wochen Trainingsferien pro Jahr.

Du hast dann mit 18 aufgehört und bist auch ziemlich in ein Loch gefallen – war der Rücktritt der Grund dafür?

Ich denke, es gab verschiedene Gründe. Einerseits war mein Leben physisch sehr fordernd. Ich hatte immer irgendwo Schmerzen. Aber es war aber auch psychisch fordernd, weil alles sehr restriktiv ist und man mit vielen Anforderungen konfrontiert ist – von sich selbst, aber auch von aussen.

Zuerst war es eine grosse Erleichterung all das nicht mehr zu haben. Aber dieser Käfig war auch alles gewesen, was ich jemals gekannt hatte. Ich musste alles aufgeben und wusste nicht, wie «normal leben» geht. Vor allem das war schwierig: Dieses nicht wissen, was man macht, wenn man nicht so viel trainiert oder so ein enges Programm hat. Auch das Selbstwertgefühl war weg.

Ich hatte sehr stark diese Sportleridentität. Nicht bewusst. Aber man kannte mich als die Sportlerin. Ich war immer die, die turnte und deshalb nie Zeit hatte, aber ich hatte deswegen auch immer etwas zu erzählen. Plötzlich war das einfach weg.

Ich fühle mich deshalb sehr alleine.

Was passierte dann?

Wenn man so ein Leben hat, ist einem immer bewusst, dass es irgendeinmal zu Ende gehen wird. Aber das war irgendwann einmal – wirklich konkret wurde es erst, als es dem Ende zuging. Vorher war es immer völlig logisch, dass ich das so machte. Sobald ich das realisiert hatte, war es fast wie ein Käfig, bei dem das Tor offenstand. Das war der erste Schritt.

Der eigentliche Rücktritt war sehr unwirklich. Denn für alle anderen war das Leben immer noch genau gleich, während meines von heute auf morgen komplett auf den Kopf gestellt wurde. Das fühlte sich sehr unwirklich an.

Die erste Zeit war geprägt von starken Verlustgefühlen. Ich trauerte allem recht stark hinterher und träumte ein, zwei Monate fast jede Nacht noch, dass ich am Turnen sei. Und ich denke, das liegt daran, dass dieser Entscheid so endgültig war. Es gab kein zurück mehr, denn der Körper ist sehr schnell nicht mehr in der Lage, diese Belastungen zu meistern.

Ich wurde oft gefragt: «Was machst du denn jetzt?» und wusste nie, was ich antworten sollte.

So rückblickend war dieses Gefühl von «Jeder weiss doch, wie man lebt» sehr vorherrschend. Irgendwie machte ich dann weiter, aber es ging mir nicht sonderlich gut dabei und je länger, dass ich weitermachte, desto länger dauerte auch das Gefühl.

Etwa 1.5 Jahre später merkte ich, dass es mir wirklich nicht mehr gut ging; ich hatte keine Freude, kam nicht aus dem Bett und kam nach all der Zeit immer noch nicht klar. Das war das erste Mal, dass ich wirklich merkte, dass es nicht mehr geht und das erste Mal, dass ich wirklich darüber sprechen konnte.

Was hast du dann getan?

Ich wandte mich an meine Eltern, meine Mutter vor allem. Mit ihr zusammen organisierte ich, dass ich zu einem Psychiater konnte. Ich ging zwei Mal und dann wieder nicht mehr, weil ich dachte: «Jetzt ist ja alles gelöst».

Ich fing dann an zu studieren und zog aus. Rückblickend war das sicherlich auch einer dieser Versuche, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Es funktionierte mehr schlecht als recht und ein Jahr später wurde es wirklich schlimm. Ich machte damals das zweite Studienjahr, was sehr intensiv und streng war. In der Lernphase merkte ich schon, wie ich ständig mit den Zähnen knirschte und es nicht schaffte, mich zu entspannen. Nach dem zweiten Studienjahr lernte ich dann einen Typen kennen, aber die Umstände waren recht schwierig. Ich denke, all das zusammen brachte das Fass irgendwie zum Überlaufen.

Und danach traten Panikattacken bei dir auf, hast du gesagt?

Genau. Ich merkte den ganzen Sommer zwischen dem zweiten und dritten Jahr über, dass ich nicht mehr richtig mochte und auch auf nichts richtig Lust hatte. Ich hatte so Tage, da hatte ich das Gefühl, ich habe null Energie. Ich mochte mich nicht wirklich bewegen und bekam Schweissausbrüche, wenn ich es schon nur versuchte. Das steigerte sich dann hoch bis ich wieder zu studieren begann. Ich sah dort auch diesen Typen wieder und das stresste mich sehr.

Dann begannen die Panikattacken. Ich weinte sehr oft und das ganze Turnthema war auch wieder viel präsenter. Das war irgendwie etwas, woran ich mich halten konnte, so nach dem Motto: «Ah, das Aufhören, das ist die Ursache meiner Probleme», aber das war es nicht, nicht nur.

Ich redete dann wieder mit meinen Eltern und sagte ihnen, dass ich Hilfe brauchte und seitdem bin ich wieder in Therapie.

In dem Fall hast du aber auch recht verständnisvolle Eltern?

Ja, das habe ich. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, wie gut sie wissen, was bei mir passiert ist und was immer noch passiert.

Bei mir spielt auch die Art, wie ich aufgehört habe, eine Rolle. Ich bin aus eigener Initiative ausgestiegen. Ich habe zudem immer zuhause gewohnt und wusste immer klar, was mein weiterer Weg sein würde. Von den äusseren Umständen her hatte ich also sehr gute Voraussetzungen. Ich denke, sehr viele Menschen haben einfach das gesehen und das Gefühl gehabt, mir gehe es ja gut. Das hat es mir auch sehr schwer gemacht: diese Wahrnehmung von aussen, dass ich es doch gut habe.

Das hat sicher auch Schuldgefühle ausgelöst.

Genau und dieses Gefühl von: «Wieso habe ich Mühe? Andere können es auch, selbst wenn sie es schwieriger haben als ich».

Aber in mir drin war alles weg; mir wurde völlig der Boden unten den Füssen weggerissen. Und das ist so ein Thema, das bei meinen Eltern auch etwas im Vordergrund steht. So dieses: «Du hast es doch gut gehabt im Vergleich zu anderen». Aber darum geht es gar nicht.

Halten sie dir das auch vor oder fühlst du dich vor allem unverstanden?

Ich fühle mich vor allem unverstanden. Und ich weiss auch nicht so recht, wie ich das alles rüberbringen kann. Ich habe immer das Gefühl, ich müsse mich rechtfertigen. Ich wünsche mir natürlich, dass sie das nachvollziehen können, weil sie wichtige Menschen in meinem Leben sind.

Mal angenommen, du hättest den Leistungssport gar nie so lange betrieben, wärst nie ins Leistungscenter gegangen – denkst du, all diese Dinge wären trotzdem einmal ausgebrochen?

Das habe ich mir auch schon überlegt. Ich dachte lange Zeit, es wäre wegen des Sports ausgebrochen. Aber mittlerweile glaube ich das nicht mehr. Erstens hatte ich rückblickend schon lange Zeit vorher depressive Verstimmungen. Ich denke, der Sport deckelte meine Probleme ein wenig. Und als er einmal weg war, kam alles hervor. Der Sport hat sicher auch viel akzentuiert und gewisse Dinge hervorgebracht, die so vielleicht nicht da gewesen wären. Ein Beispiel wäre das Thema Körperbild und Essverhalten. Aber es ist sicher auch wegen dem ausgebrochen, was ich als Person mitbringe.

Zum Thema Körperbild – spürst du diesen Druck immer noch?

Ich denke, ich bin recht glimpflich weggekommen. Ich hatte sicherlich während meiner Turnphase ein gestörtes Essverhalten, wenn nicht gar eine Essstörung. Wenn man mein Gewicht über die Jahre anschaut, dann hatte ich seit ich 14 war plus minus 2kg immer dasselbe Gewicht gehabt.

Nach dem Rücktritt kompensierte ich mit sehr viel Essen – was ich gerade Lust hatte und wann ich gerade Lust hatte… Sehr viel Süsses, weil das so das war, was ich nie hatte essen dürfen.

Ich war schon vorher nie zufrieden mit meinem Körper gewesen und ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich nicht jede Woche 20 Stunden trainieren und dabei normal essen konnte. In dieser Zeit probierte ich auch verschiedene Sportarten aus, weil ich so das Gefühl hatte, ich müsse einfach Sport machen.

Das mit dem Essen war auch 2, 3 Jahre danach noch ein Thema. Ich fühlte mich durcheinander, mein Gewicht ging halt etwas rauf… Aber irgendwann begann sich das Ganze einzupendeln. Ich hatte nicht mehr die ganze Zeit Lust zu essen. Heute denke ich, dass es gut war, dass ich mir erlaubte, mich vollzustopfen und dann irgendwann zu merken, dass der Körper eigentlich weiss, was er will. Heute bin ich, was mein Körper betrifft, eigentlich gut unterwegs.

Was ich übrigens auch sehr faszinierend finde, ist, dass wir über lange Stecken einfach unsere Tage nicht hatten. Ich hatte meine jeweils einmal nach den Ferien, weil sich da mein Körper wieder erholt hatte wahrscheinlich, und dann wieder ein halbes Jahr nicht mehr.

Kam dir das jemals komisch vor oder war das einfach so?

Das war einfach so. Ich habe massiv unter dem gelitten, aber ich hatte nie die Möglichkeit oder Plattform, um darüber zu sprechen. Ich wünschte, ich hätte damals mehr Unterstützung und Begleitung gehabt.

Wie ist dein Verhältnis zum Sport heute?

Mein Verhältnis zum Sport habe ich immer noch nicht ganz geklärt. Das ist für mich im Moment schon noch immer ein wichtiges Thema, besonders durch meine Angststörung und Panikattacken, die ich immer sehr körperlich wahrgenommen habe. Das heisst, ich habe eigentlich nicht wirklich Angst, sondern bekomme immer Hitzewallungen und Kälteschübe, spüre ein Kribbeln, habe keine Energie mehr haben. All das sind Dinge, die man spürt, wenn man sich bewegt. Und ich kann heute wie nicht auseinanderhalten, ob ich diese Dinge wegen meiner Panik spüre oder weil ich mich körperlich anstrenge.

Ganz oft löst auch dieses «Müssen» solche Attacken aus. Das hatte ich ganz lange in meinem Leben. Und ich musste aktiv lernen, dass es auch okay ist, mal etwas nicht zu tun, nicht zu müssen. Bis heute halte ich das «Müssen» nicht gut aus. Und das «Sport machen müssen» noch viel weniger.

Kann es denn auch sein, dass du gar keine Angst verspürst, aber dein Körper einfach reagiert?

Bei mir ist es schon so, dass der Körper quasi vorausgeht und der Kopf dann nachzieht. Ich merke meist, dass ich gewisse körperliche Reaktionen habe und frage mich dann, was los ist und das stresst mich, weil ich es nicht stoppen kann. Man ist dem völlig ausgeliefert und das ist das Schlimme an dieser Angst: Dass man dem Ganzen kein Ende setzen kann.

Man merkt mir von aussen häufig auch nichts an und das macht es wahrscheinlich so schwierig für andere, damit umzugehen.

Findest du das praktisch oder doof?

Eher doof. Ich wirke immer so souverän, obwohl in mir drin einfach irgendwas am Passieren sein kann.

Ich habe es auch ganz lange nicht geschafft, das rauszutragen, zu sagen: «Mir geht es gar nicht gut». Das musste ich lernen. Auch heute gelingt mir das manchmal nicht, aber es geht schon viel besser.

Wenn man dir nichts anmerkt, kann man dir natürlich dann auch nicht gut helfen.

Genau! Psychische Erkrankungen sieht man nicht. Bei vielen jedenfalls nicht.

Man hat immer bestimmte Bilder von psychischen Erkrankungen im Kopf. Und ich passe einfach in keine dieser Boxen. Auch von dem her, wie es sich bei mir präsentiert. Ich habe irgendwie nichts in der Hand und das macht es, denke ich, nochmals schwierig zum Nachvollziehen.

Was würdest du anderen in einer ähnlichen Situation mitgeben?

Ich würde ihnen, glaube ich, sagen, sie sollen nett zu sich selbst sein. Geduld haben. Es muss nicht immer alles sofort gleich funktionieren. Und vor allem reden; darüber reden, was abgeht, auch wenn einem die Worte dafür fehlen.

Ich würde mir wünschen, dass man die Gelegenheit bekommt zu reden; dass irgendwo der Haken ausgeworfen wird und man anbeissen kann. Und dass ich früher darüber geredet hätte.

Was wünscht du dir für deine Zukunft?

Ich bin mittlerweile an einem Ort, wo ich das Gefühl habe, ich bin gut unterwegs, auch trotz meiner Problemem. Ich wünsche mir einfach, dass ich noch etwas besser damit zurechtkomme, besonders, wenn es gerade ein schlechter Tag ist. Und ich wünsche mir auch, dass ich vielleicht etwas bewirken kann; dass andere, die das gleiche erlebt haben, eine Plattform haben, um darüber zu sprechen.

Philosophische Gedanken zu Zwangsstörungen und Psychotherapie: Teil II

Zwangsstörungen

Screenshot_20191210-065337~2

Lieblingsgetränk: Ice Tee

Wir kommen jetzt zur zweiten Dimension, entlang welcher «Rationalität» ein Problem darstellen kann, wenn es um psychische Erkrankungen und die Behandlung derselben geht. Ich möchte an dieser Stelle einen Disclaimer machen: Wenn du bereits unter Zwangsgedanken leidest, dann tu dir selbst einen Gefallen und lies hier nicht mehr weiter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du irgendeinen Gewinn aus diesem zweiten Teil ziehen könntest, abgesehen von mehr Zwangsgedanken. Und wie wir beide wissen, ist jeder einzelne von denen einer zu viel.

Als ich letzten Sommer meine Medikamente absetzte und spürte, wie viele Emotionen und Antriebe mit voller Kraft zurückkehrten, kehrten auch meine üblichen Zwangsgedanken bezüglich Sexualität und Gewalt zurück. Da ich auf Grund der vier Jahre Ruhe etwas von meiner Expertise im Umgang mit ihnen verloren hatte, trafen sie mich hart. Das war aller Wahrscheinlichkeit nach der hauptsächliche Grund für die darauffolgende Krise, wenn man bedenkt, dass ich schon von Anfang an destabilisiert gewesen war. Bevor ich euch von dem erzähle, was ich irgendwann als «paradoxe Zwangsgedanken» zu bezeichnen begann, gibt es einige therapeutische Tools, die wir vorher anschauen müssen.

Laut der kognitiven Verhaltenstherapie ist es wichtig, sich nicht mit dem Inhalt von Zwangsgedanken zu beschäftigen, sondern stattdessen einfach zu akzeptieren, dass der Gedanke aufkommt und es dann bei dem zu belassen. Diese Technik ist zentral, wenn es darum geht, mit Zwangsgedanken umzugehen, da das Ernstnehmen des Inhalts von Zwangsgedanken gerade erst den krankhaften Zyklus von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen generiert. Natürlich ist das einfacher gesagt als getan. Es ist schwierig den schieren Horror zu beschreiben, den man erlebt, wenn man von einem Zwangsgedanken komplett überrumpelt wird, und dieser Horror ist es, was es schwierig macht, nicht sofort den Inhalt des Zwangsgedankens zu betrachten und ihn auseinanderzunehmen.

Wie ich bereits im ersten Teil dargelegt habe, habe ich immer gewisse skeptische Zweifel bezüglich der Therapie, mit der man mich behandelte, gehegt. Ich spreche hier über diejenigen Teile einer Therapie, die einige «interessante» moralphilosophische Gedanken verkleiden, um zu bestimmen, was «psychische Gesundheit» ist oder nicht. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn man Aussagen wie «Ich bin wertvoll» als einen Standard für psychische Gesundheit behandelt, weil psychische gesunde Personen anscheinend solche Dinge glauben, während man die explizit moralischen Grundlagen solcher Aussagen einfach ignoriert. Ich überlegte mir also eines Tages, welche der Dinge, die ich in der Therapie gelernt hatte, zutreffender als verwässerte Moralphilosophie beschrieben werden könnten, und denen, gerade weil sie verwässert sind, die notwendige Rigorosität im Umgang mit solchen Themen fehlte, und hatte plötzlich Angst, dass ich, indem ich den Anweisungen meines Therapeuten folgte, zu Glaubensgrundsätzen gelangt war, die falsch waren, oder gewisse Denk- und Verhaltensweisen angenommen hatten, die zu recht kritisierbar wären. Ich hatte dann die folgende «Idee»: Wenn ich Zwangsgedanken in Bezug auf Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie hatte, dann würden, wie oben erwähnt, diese Techniken von mir verlangen, dass ich den Inhalt dieser Zwangsgedanken ignorierte. Wenn ich allerdings den Inhalt ignorierte, also die Techniken anwandte, würde ich deren Inhalt zugleich nicht ignorieren, da ich, während ich die Technik anwenden, zugleich deren Inhalt zurückweisen würde – nämlich, dass meine Techniken in einem gewissen Sinn fehlerhaft sind. Ich befasse mich also mit dem Inhalt der Zwangsgedanken und ende letztlich damit, dass ich die Techniken in einem gewissen Sinne eben doch nicht anwende. Auf den ersten Blick sah das für mich wie ein genuines Paradoxon aus.

Ich habe das Wort vielleicht schon zu viel gebraucht, aber wenn es irgendwo Anwendung findet, dann sicherlich hier: Ich war komplett überwältigt von einem Gefühl schieren Horrors. Mein erster Gedanke war: «Jetzt ist alles vorbei. Du hast Zwangsgedanken erschaffen, mit denen man nicht mehr umgehen kann. Dir kann nicht mehr geholfen werden. Gratulation!». Offensichtlich liegt es in der Natur von Paradoxien – wenn man davon ausgeht, dass es sich um ein genuines Paradoxon handelt –, dass diese unauflösbar sind, und da die Anwendung meiner Techniken nun die Auflösung eines Paradoxons zu bedingen schien, schien es mir, als hätte ich meinen Kampf gegen meine Zwangserkrankung verloren.

Das markierte den Beginn eines äusserst mühsamen Sommers. Einige Tage später wurde ich in einer Tagesklinik hospitalisiert, die sich darauf spezialisierte, Hilfe für Menschen bereitzustellen, die sich zurzeit in einer Krise befanden. Normalerweise dauert ein Aufenthalt maximal 7 Tage. Ich war für 3 Wochen hospitalisiert, ehe mein Therapeut aus seinen Ferien zurückkehrte und fähig war, mich in einem ambulanten Setting zu betreuen. Leider wurde alles nur noch schlimmer. Dank einiger weiterer «geistreicher» Ideen verschoben sich meine Zwangsgedanken weg von der Angst bezüglich Paradoxien hinsichtlich meiner Anwendung von CBT-Techniken und hin zu allgemeineren Themen wie was real und was gewiss ist. Üblicherweise würde ein Gedankengang etwa wie folgt ablaufen: «Wenn ich Zwangsgedanken hinsichtlich dessen habe, was real ist und was nicht, muss ich, um meine Techniken anwenden zu können, zuerst davon ausgehen, dass meine Zwangsgedanken real sind. Das ist aber genau das, was bestritten wird, also würde ich mich wieder mit ihrem Inhalt auseinandersetzen!». Beachte hier meinen Gebrauch des Wortes «würde». Am Schluss des Tages kann ich mich kaum daran erinnern, während dieses Sommers tatsächlich Zwangsgedanken hinsichtlich dieser Dinge gehabt zu haben. Die ganze Tortur drehte sich nur um diese Art von «Wenn»-Aussagen. Es ist vernünftig zu vermuten, dass diese Wenn-Aussagen dasjenige waren, worunter ich litt; dass das die Zwangsaussagen waren, anstelle von Zwangsgedanken erster Stufe wie «Das ist nicht real!». Was auch immer der Fall war, ich hoffe, es ist irgendwie verständlich, wie solche Gedanken quälend sein können, vor allem, sobald man sich diese Gedanken als «schwarze Löcher» vorstellt: Wenn man einmal drin ist, kommt man nicht mehr raus, weil sie «unlösbar» sind.

Als meine Zwangsgedanken sich von Sorgen um die Realität hin zu Sorgen um Gewissheit verschoben, wurde es ziemlich chaotisch. Stell dir vor, du wächst eines Tages in einem fremden Bett, an einem fremden Ort auf, wo Menschen geplagt vom Schicksal temporär mit dir zusammenwohnen, und du fühlst nichts als Angst. Klarerweise sind das nicht gerade die besten Bedingungen, um mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und so etwas wie «Ich bin mir sicher, dass 1+1=2 ist» zu sagen. Doch genau dieses Gefühl von Sicherheit war es, was ich damals verzweifelt am suchen war. Wenn nun oben drauf deine Zwangsgedanken dich auch noch mit Zweifel über Gewissheiten zu plagen beginnen und du so oder so schon psychisch und physisch erschöpft bist, könntest du am Ende so etwas wie ein globaler Skeptiker werden, d.h. jemand, der jede Aussage, die du vorbringst, anzweifelt, egal wie selbst-evident sie aussieht. Um alles noch schlimmer zu machen, bekommst du jetzt noch Zwangsgedanken, die dir sagen, dass das, was du erreicht hast,so etwas wie eine intellektuelle Erleuchtung sei und, dass zurückzugehen zu deinem ursprünglichen Geisteszustand bedeuten würde, eine wichtige Einsicht zu verlieren. Um es kurz zu fassen: Ich war zwischen Stuhl und Bank gefangen.

Glücklicherweise hielt diese Situation nicht länger als einen Monat an. Du magst dich jetzt vielleicht fragen, wie es mir gelang, dem schwarzen Loch zu entfliehen. Und um ehrlich zu sein: Das weiss ich selbst nicht so genau. Es war ein Sonntagnachmittag, als mehrere Dinge gleichzeitig geschahen: Zuerst nahm ich all meinen Mut zusammen und versuchte eine Expositionstherapie hinsichtlich der Gewissheit meiner Zwangsgedanken. Zweitens ass ich ungefähr ein halbes Kilo Pommes. Ich hatte zuvor während meiner drei Wochen Klinikaufenthalt etwa 10 Kilogramm verloren gehabt. Drittens nahm ich zusätzlich zu meinem SSRI, welches ich wieder zu nehmen begonnen hatte, ein Anti-Psychotikum, das bekannt war für seinen beruhigenden und schlaf-fördernden Effekt. Während meines Aufenthalts hatte ich durchschnittlich nur 4-5 Stunden pro Nacht geschlafen. Diese Nacht schlief ich als Resultat des Medikamentes etwa 15 Stunden durch. Die Kombination dieser Dinge muss wohl ihren Zweck erfüllt haben: So schnell wie die Krise gekommen war, klang sie auch wieder ab.

Um zurück zum Titel meines Essays zu gelangen: Rationalität spielt verschiedene Rollen in all dem. Erstens war Rationalität verstanden als eine Fähigkeit sicherlich notwendig, damit die ganze Tortur überhaupt entstehen konnte. Wenn ich nicht so starke analytische Fähigkeiten hätte, hätte ich solche Zwangsgedanken gar nie entwickelt. Rationalität spielt aber auch in einem anderen Sinne eine Rolle. Schliesslich hat Rationalität für mich wie für viele andere Menschen einen hohen Stellenwert, weshalb ich sie auch verfolge. Aber das zusätzlich zu gewissen perfektionistischen Tendenzen und teilweise auftretendem schwarz-weiss Denken zu tun, kann pathologische Effekte erzeugen.

Bevor ich meinen Essay beende, möchte ich etwashinsichtlich dessen bemerken, was ich bis jetzt gesagt habe. Manche Menschen werden meine Geschichte vielleicht dazu verwenden wollen, um etwas zu beweisen, beispielsweise, dass Rationalität – oder «rationalitäts-basierte» Therapien – verheerend für die psychische Gesundheit eines Menschen oder sonst irgendwie fehlerhaft sind. Dem möchte ich widersprechen. Viele der schwarzen Löcher verdampfen zum Beispiel, sobald man fähig ist, mit einem ruhigeren Geist an sie heranzugehen. Betrachte beispielsweise das Problem mit dem Paradoxon bezüglich der Anwendung der Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie. Ist es wirklich ein Paradoxon? Es gibt hier zwei Dinge zu bemerken. Erstens gibt es mehrere Techniken. Während ich also zwar eine Technik anwende, was dazu führt, dass ich eine andere nicht anwende, bedeutet das nicht, dass ich dieselbe Technik zur selben Zeit anwende und doch nicht anwende. Selbst wenn das der Fall wäre, so wären nicht alle meine Techniken gleichzeitig «gefährdet». Darüber hinaus ist es plausibel anzunehmen, dass es verschiedene Arten gibt, wie man sich mit dem Inhalt von Zwangsgedanken auseinandersetzen kann – direkt oder indirekt beispielsweise. Aus diesem Grund könnten Beschreibungen wie «diese und jene Technik anwenden und nicht anwenden» oder «sich mit dem Inhalt von Zwangsgedanken auseinandersetzen und gleichzeitig nicht» Fehlbeschreibungen sein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht gleichzeitig mich mit dem Inhalt eines bestimmten Gedankens auseinandersetzen und nicht auseinandersetzen kann. Wenn ich den Gedanken einfach als Zwangsgedanken erkenne und dann dessen Inhalt ignoriere, ignoriere ich ihn. Sobald ich mir der Tatsache bewusst bin, dass solch eine Handlung implizit die Zurückweisung der Aussage, die der Zwangsgedanke beinhaltet, impliziert, bin ich genau das – mir dieser Tatsache bewusst. Solch eine Inferenz zu begreifen, ist allerdings nicht dasselbe, wie sich mit dem Inhalt des Zwangsgedankens oder sich auf sonst eine direkte Art mit ihm auseinanderzusetzen. Dazu kommt, dass die in Frage stehende Zurückweisung gar nicht eine genuine sein muss: Vielleicht kann ich für den Moment einfach annehmen, dass der Inhalt falsch ist, ohne mich hierbei darauf zu einigen, dass der Inhalt wirklich falsch ist. Letzten Endes kann ich also ganz stur einfach meine Techniken benutzen und die Fragen nach ihrer Gültigkeit auf später verschieben.

Bezüglich der Zwangsgedanken um Realität und Gewissheit mag es ziemlich sicher ähnliche Klarifikationen und Wege geben, mit ihnen umzugehen. Ausserdem würden wohl die meisten PhilosophInnen mit mir übereinstimmen, wenn ich sage, dass (objektive) Gewissheit manchmal wirklich schwierig zu erreichen ist.  Wir können uns aber auch mit weniger begnügen: Ist Gewissheit nicht zu erreichen, so sind wir immer noch gerechtfertigt, diejenigen Glaubenssätze für wahr zu halten, die am plausibelsten sind. Daher mag es am Ende des Tages gerechtfertigt sein, gewisse epistemische Risiken einzugehen. Und mir selbst scheint ein unterbewusstes, fehlerhaftes Prinzip meinerseits im Sinne von «Gewissheit oder gar nichts!» die treibende Kraft hinter solchen Zwangsgedanken zu sein, welches definitiv einer Revision bedarf.

Ich habe also immer noch viel, woran ich arbeiten muss. Aber ich habe solche «paradoxe» Zwangsgedanken schon einmal besiegt, also sollte ich sie auch wieder besiegen können. Am Ende des Tages bin ich zuversichtlich, dass ich eines Tages einen Weg finden werde, mit solchen Zwangsgedanken umzugehen und in diesem Prozess auch ein Stück Lebensqualität wieder zurückzuerlangen.

 

Wenn ihr es so weit geschafft habt, möchte ich euch herzlich dafür danken, dass ihr alles durchgelesen habt! Ich hoffe, es war mehr oder weniger verständlich und vielleicht sogar bis zu einem gewissen Grad informativ für euch.

 

 

Zwangsstörung: Bei einer Zwangserkrankung treten sogenannte Zwangsgedanken und Zwangshandlungen auf. Zwangsgedanken äussern sich in zwanghaft immer wieder auftretenden Gedanken und Impulsen wie Zweifel, Befürchtungen, Grübel- oder Wiederholungszwänge (bestimmte Sätze oder Wörter müssen auf eine bestimmte Art und Weise oder eine bestimmte Anzahl von Malen wiederholt werden), deren Inhalt als unsinnig erkannt, gegen die aber nichts unternommen werden kann. Zwangshandlungen dagegen bezeichnen zwanghaft ausgeführte Handlungen wie beispielsweise der Zwang bestimmte Dinge immer wieder zu berühren oder zu zählen, deren Unterlassen zu starken Ängsten und Anspannung führt. Es treten nicht in jedem Fall beide Symptome auf1

 

 

 

 

 

 

 

 

Quellen:

1 „Zwangsstörung“. Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Zwangsst%C3%B6rung [Letzter Aufruf: 10.12.2019]

Philosophische Gedanken zu Zwangsstörungen und Psychotherapie: Teil I

Rationalität

Screenshot_20191210-065337~2

Lieblingsgetränk: Ice Tee

Ein intrusiver Gedanke wird normalerweise charakterisiert als ein ungewollter Gedanke, ein mentales Bild oder ein Kommentar, der als verstörend, angstauslösend oder auf irgendeine andere Weise als unangenehm erfahren wird. Obwohl fast alle Menschen von Zeit zu Zeit solche intrusiven Gedanken erleben, verwandeln sie sich bei den meisten nicht in Zwangsgedanken. Wenn das passiert, beginnt die Person, die die intrusiven Gedanken hat, sich zu einem pathologischen Grad auf den Inhalt derselben zu konzentrieren. Man betrachte zum Beispiel eine Mutter mit einem neugeborenen Kind, die den ungewollten Gedanken hat, dass sie ihr Kind töten könnte. Dieser Gedanke verstört sie so sehr, dass sie zwanghaft beginnt darüber nachzudenken, ob sie es wirklich in sich haben könnte, so etwas zu tun. Sie wird unzählige Male zu diesem Gedanken zurückkehren und «Ausschau halten» für irgendein Anzeichen von Aggression, das diesen Gedanken begleiten könnte, was sie als Zeichen dafür deuten würde, dass sie es sehr wohl in sich haben könnte, so eine abscheuliche Tat zu begehen. Während sie sich damit beschäftigt, wird sie sogar noch mehr intrusive Gedanken der ersten Art erleben, vielleicht sogar in erhöhter Frequenz, mit noch detaillierterem oder brutalerem Inhalt. Sie wird dann in einen Teufelskreis geraten, in dem sie zwanghaft über ihre intrusiven Gedanken nachdenkt, was wiederum mehr intrusive Gedanken hervorruft, was dann wieder zu mehr zwanghaftem Nachdenken über diese Gedanken führt. In einem solchen Fall sind die intrusiven Gedanken dann zu Zwangsgedanken geworden.

Die grundsätzliche Komponente jeder Zwangsstörung sind solche Zwangsgedanken. Unabhängig von der Kultur, dem sozialen Status, dem Geschlecht oder der geschichtlichen Epoche der betroffenen Menschen drehen sie sich normalerweise um die Themen Sexualität, Gewalt, Religion, Symmetrie, Sauberkeit und solche Dinge. Die Angst, die Menschen mit Zwangsgedanken erleben, resultiert in Zwangshandlungen: Ritualisierte Verhaltensmuster, die dazu benutzt werden, die Angst, zu der Zwangsgedanken führen, zu mildern. Die Mutter in dem Beispiel weiter oben könnte beispielsweise anfangen, Messer vor sich selbst zu verstecken (wenn wir annehmen, dass ihre Zwangsgedanken sich darum drehen, ihr Kind mit einem Messer zu töten). Sie könnte so viel Angst bekommen vor der Möglichkeit, ihr Kind zu töten, dass sie Erleichterung erfährt, indem sie potenzielle Mordwaffen versteckt oder verstaut. Es ist wichtig hier zu erwähnen, dass Personen, die unter Zwangsstörungen leiden, nicht den Bezug zur Realität verloren haben: Die Mutter wird sich sehr wohl bewusst sein, dass keine reale Chance besteht, dass sie jemals ihr Kind töten würde und dass ihr Verhalten «irrational» ist, aber der wiederkehrende Gedanke, dass sie es tun könnte, stürzt sie in einen nie-endenden Teufelskreis aus zwanghaftem Nachdenken, Ausführen von Zwangshandlungen und Erleben von Zwangsgedanken, und die Angst und Zweifel, die dies bringt, werden in so einer disruptiven und behindernden Angst resultieren, dass das Aufrechterhalten dieser Gewissheit zu einer anstrengenden Herausforderung wird. Das ist ein anderes klassisches Symptom: Sie wird ihr Bestes dafür tun, subjektive, d.h. (grob gesagt) emotionale, Sicherheit zu finden, dass sie so etwas niemals tun würde, obwohl objektiv gesehen nur wenig Grund dafür besteht, so etwas jemals zu fürchten. Es besteht eine gute Chance, dass ihr das nicht lest, um über die Definition von Zwangsstörungen zu hören, aber ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir alle auf dem gleichen Stand sind, bevor wir fortfahren.

Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich meinen ersten Zwangsgedanken als ich 6 Jahre alt war. Damals hatte ich als Resultat dessen, dass ich dem, was ich mir wünschte oder dachte, nicht wirklich Aufmerksamkeit schenkte, Angst, dass ich möglicherweise von einem Dämon besessen sein könnte. Das verkehrte sich dann schnell in einen Zwangsgedanken und sich wiederholende, intrusive Gedanken darüber, besessen zu sein oder zu werden sowie das mentale Überprüfen darauf, ob ich möglicherweise blasphemische Gedanken haben könnte oder nicht. Ich hatte mehrere solche Episoden in meiner Kindheit, die normalerweise höchstens ein paar Wochen andauerten, aber erst mit 16 wurde aus solch einer Episode eine volle Zwangsstörung. Zuerst drehte sie sich um das Thema Gewalt, dann um das Thema Sexualität. Ich kämpfte schliesslich immer gegen irgendeine Art von Zwangsgedanken an bis ich 18 Jahre alt war. Dann, als ich für drei Monate hospitalisiert worden war und eine Mischung aus kognitiver Verhaltenstherapie und Medikamenten erhalten hatte, verbesserte sich meine Situation rapide. Ich war weitestgehend frei von Zwangsgedanken. Der einzige Nachteil an der Sache war, dass ich unter starken Nebenwirkungen meiner Medikamente litt: Erektile Dysfunktion, starke Schläfrigkeit und Gewichtszunahme. Trotzdem verbesserte sich meine Lebensqualität stark, nachdem ich meine Matura mit Topnoten – trotz allem – bestanden und mein Studium begonnen hatte. Und das ging alles abgesehen von einem kurzen Rückfall mit 21 weiter, bis es mir schliesslich gelang, meine SSRI im Sommer vor einem Jahr komplett abzusetzen.

Bis zu jenem Sommer war ich eine Art Textbuch-Beispiel dafür gewesen, was man manchmal als «pure O» oder als Zwangsstörung mit Zwangsgedanken aber ohne Zwangshandlungen nennt. Ich stimme mit Experten darüber ein, dass der Ausdruck irreführend ist. Denn schliesslich führe auch ich wie alle anderen Menschen mit Zwangsstörungen Zwangshandlungen aus, die aber einfach nicht direkt beobachtbar sind. Aber ich möchte nicht länger darüber reden, wie meine Krankheit genau gelabelled wird, wie sie überhaupt das erste Mal aufgetreten ist oder wie mein Leben genau war, als ich von Zwangsgedanken über Sexualität und Gewalt heimgesucht wurde. Stattdessen möchte ich über zwei Probleme sprechen, die sich in meinem letzten Lebensjahr im Zusammenhang mit meiner Krankheit, deren Behandlung, und, breit gesagt, Rationalität als solches, ergeben haben. Das erste Problem ist, dass ich, weil ich Philosophie und Mathematik studiert habe, sehr breit darin geschult bin, Glaubenssysteme – und das beinhaltet auch diejenigen der modernen Verhaltenstherapie – zu analysieren, auseinanderzunehmen und zu kritisieren. Als Resultat dessen stehe ich gewissen Aspekten meiner Gesprächstherapie sehr skeptisch gegenüber und das möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen.

Man nehme die folgende Aussage: «Du verdienst es, glücklich zu sein». Während es zwar schön sein mag, das zu hören, hat mich daran schon immer etwas gestört. Ich bin mittlerweile überzeugt, dass es eine ziemlich sinnlose Aussage ist- Denn was meinen wir für gewöhnlich, wenn wir sagen: «Person x verdient y»?. Normalerweise, würde ich sagen, meinen wir etwas in der Art wie: «x hat eine Handlung H ausgeführt und auf Grund dessen, dass sie H ausgeführt hat und H moralisch gut/schlecht/ etc. ist, verdient x y, wobei y eine adäquate Belohnung/ Bestrafung/ etc. für x ist». Man betrachte auch dieses Beispiel: Nathan hat ein ertrinkendes Kind nicht gerettet, obwohl die Gezeiten für ihn als Erwachsenen überhaupt kein Problem gewesen wären. Der Grund für Nathans Zurückhaltung war, dass er einen neuen Anzug trug, den er nicht dreckig machen wollte. Würden wir jetzt sagen, dass Nathan eine Art adäquate Bestrafung für seine Tat verdient? Ich denke, die meisten, inkl. mir selbst, würden das sagen. Wir könnten also sagen: Nathan verdient es angesichts dessen, dass er ein ertrinkendes Kind nicht gerettet hat, obwohl er dies unter nur wenigen signifikanten Kosten für sich selbst hätte tun können, adäquat bestraft zu werden. Lasst uns nun, um die Terminologie zu klären, jemanden, der etwas verdient, den «Verdienstträger» nennen, das, was er oder sie verdient, den «Verdienst» und die Gründe, weshalb der Verdienstträgen den Verdienst verdient «Verdienstgründe».

Es gibt aber noch einen anderen Teil dieser Aussage, den wir klären müssen, bevor ich mit meinem eigentlichen Argument fortfahren kann. Nehmen wir an, ich verdiene es, glücklich zu sein. Aber wie sollte ich «glücklich» in diesem Kontext verstehen? Hier ist eine mögliche Antwort: Kontinuierliche Momente der Freude. Aber hier gibt es ein Problem, weil Menschen in diesem Sinne von «glücklich» – meistens zumindest – über oder wegen etwas glücklich sind. Wegen was verdiene ich es also, glücklich zu sein? Bitte behaltet diese Frage im Kopf, da ich später zu ihr zurückkehren werden. Aber zuerst jetzt ein zweiter Sinn, in dem man «glücklich» verstehen kann: ein gutes Leben. In diesem Fall würde ich es verdienen, ein gutes Leben zu haben. Aber ist das plausibel? Schliesslich scheint es von Anfang an klar zu sein, dass ich etwas ziemlich Bewundernswertes getan haben muss, um ein gutes Leben zu verdienen.

Hier gelangen wir zu meinem Hauptargument. Wie ich weiter oben als Resultat konzeptueller Analyse festgestellt habe, benötigt jegliche Rede von «Verdienst» Verdienstgründe. Was aber, frage ich, sind die Verdienstgründe in meinem Fall? Ich kann mir einfach keine solchen Gründe für keine der beiden Deutungsweisen von «glücklich» vorstellen. Wenn wir die erste Deutungsweise zugrunde legen, bedeutet «glücklich» das übliche «Erfahren von Freude» und hat ein Objekt oder eine Ursache. Hier, würde ich sagen, ist es zumindest etwas ungrammatikalisch von «Verdienst» zu sprechen. Wir können vielleicht etwas sagen wie: «Du verdienst es, glücklich zu sein über deine gute Note, du hast so hart für sie gearbeitet!». Aber ich frage mich, ob wir nicht eher etwas meinen wie: «Es ist adäquat, glücklich zu sein über deine Note, weil du so hart für sie gearbeitet hast!» oder «Du darfst glücklich sein über deine Note, angesichts dessen, dass du so hart für sie gearbeitet hast!». So etwas wie Freude zu verdienen, scheint höchst merkwürdig für mich zu sein, weil wir über eine emotionale Antwort auf etwas oder vielleicht auch nur einen emotionalen Zustand sprechen, und der kann, wenn überhaupt, immer nur adäquat sein. Verdienst hingegen beinhaltet etwas aktiveres und beabsichtigte Massnahmen. Emotionale Antworten oder Zustände qualifizieren sich nicht als solche. Viel wichtiger noch wird im Kontext der therapeutischen Aussage kein Objekt bereitgestellt, über das man glücklich sein könnte! Damit können wir diese Leseweise gerade so gut vergessen angesichts dessen, dass diese Aussage von Anfang an nicht so gemeint sein kann. Betrachten wir die zweite Leseweise von «glücklich», wird es erneut problematisch, von Verdienst zu sprechen. Wenn ich es wirklich verdiene, in diesem Sinn glücklich zu sein, muss ich dafür gearbeitet haben, d.h. ich muss irgendwelche Verdienstgründe haben. Aber ein insgesamt gutes Leben kann kaum die Belohnung für eine einzelne Handlung sein, weil ein insgesamt gutes Leben, wenn man darüber nachdenkt, aus vielen verschiedenen Dingen besteht, was aber auch gute Handlungen beinhaltet. Also scheint es wahrscheinlicher zu sein, dass ein insgesamt gutes Leben etwas ist, was jemand Schritt für Schritt dadurch erreicht, dass er oder sie eine Reihe an verschiedenen Handlungen ausführt, zugegebenermassen solche, die einen moralisch positiven Status besitzen. Die einzige Art von Verdienst, für den ich hier Raum machen könnte, ist eine Art triviale, retrospektive «Du hast hart für x gearbeitet und es bekommen und als solches verdienst du x auch» Form von Verdienst. Aber dieser Verdienst ist retrospektiv und nicht prospektiv, wie die Aussage der Therapeuten zu implizieren scheint.

Fassen wir also zusammen: Die Aussage, mit der wir gestartet haben, stellte sich als sinnlos heraus, weil die Verwendung von «verdienen» entweder explizit oder implizit gewisse Verdienstgründe voraussetzt. Nun ist es allerdings so, dass es für die Dinge, die man angeblich verdient – in diesem Fall glücklich zu sein – keine Verdienstgründe geben kann. Das habe ich zumindest zu plausibilisieren versucht. Als solches macht die Rede von Verdienst im Kontext des Glücklichseins, egal, wie man’s dreht, keinen Sinn.

Ich möchte an dieser Stelle noch einige Kommentare anbringen, bevor ich zum zweiten Teil meines Essays übergehe. Erstens sage ich nicht, dass die Menschen allgemein es nicht verdienen, glücklich zu sein, zumal diese Redeweise genauso sinnlos wäre. Zweitens bin ich mir völlig darüber im Klaren, dass ein Therapeut vielleicht nicht versucht, gewisse moralische Wahrheiten herüberzubringen, wenn er oder sie so spricht. Vielmehr hat der Patient wahrscheinlich gewisse Selbstwertprobleme und die Tendenz, zu harsch mit sich selbst zu sein. Entsprechend ist die Aussage eher wie eine Umarmung oder ein Vorschlag, dass es zulässig ist, ab und an weniger harsch mit sich zu sein. Aber es gibt viele Probleme mit dieser Art von Rechtfertigung. Wenn es wirklich darum geht, eine Umarmung zu geben oder ermutigende Worte auszusprechen, wieso macht man dann nicht das? Wieso muss man dafür Worte benutzen, die eine etablierte und auch wichtige Verwendungsweise haben, wenn dafür kein Grund besteht? Natürlich hat die Verwendung von moralischem Vokabular eine grosse suggestive Kraft, aber dann würde ich behaupten, dass es selbst wiederum zweifelhaft ist, ob es zulässig ist, solches Vokabular nur wegen seiner motivationalen Kraft zu verwenden, vor allem, wenn derselbe Effekt mit adäquaterem Vokabular erzielt werden könnte. Es geht hier aber nicht nur um die falsche Verwendung von Sprache: Wenn eine Aussage als Antwort auf ähnliche Aussagen des Patienten gemacht wird, wie beispielsweise die Aussage «Ich verdiene es nicht, glücklich zu sein, weil ich eine schreckliche Person bin», nimmt der Therapeut an einem Diskurs teil, der von Anfang an verwirrt sein könnte, weil, um es hier nochmals zu erwähnen, von Anfang an überhaupt nicht klar ist, wie Verdienst im Zusammenhang mit der Rede vom Glücklichsein – egal, auf welche Art und Weise man das interpretiert – genau funktionieren soll. Zu guter Letzt: Weil es sich eben doch um eine moralische Aussage handelt, kann sie sehr wohl wortwörtlich genommen werden und wenn der Patient zu der Überzeugung gelangt, die in dieser Aussage vorhanden ist, könnte er oder sie beispielsweise eine problematische Anspruchshaltung entwickeln. So könnte er oder sie denken, er oder sie verdiene es, glücklich zu sein, und somit beginnen, übermässig egoistische Handlungen, die Menschen um ihn oder sie herum schaden, auszuführen.

Drittens, nehmen wir zu Zwecken des Arguments an, dass es eine nicht-verwirrte, komplett bedeutungsvolle Art gibt, die therapeutische Aussage auszubuchstabieren. Beachtet hier allerdings, dass die Aussage eine tiefverankerte moralische Natur hat, da Behauptungen im Zusammenhang mit Verdienst paradigmatisch moralische Behauptungen darstellen. Was ist also das Problem? Ich zumindest kann nicht sehen, wie eine Ausbildung als Therapeut einem ein tiefgründiges und nuanciertes Verständnis von Verdienst geben könnte oder wie Forschung im Bereich der Psychotherapie zu der Entdeckung von Wahrheiten darüber führen könnte, welche Person was verdient. Vor allem das letztere Unterfangen hält sich selbst hohen Standards wissenschaftlicher Rigorosität verpflichtet und Forschungsprogramme in Ethik überlappen sich mit solchen in den (Natur-)Wissenschaften ungefähr so stark wie Bergsteigen und Netflix & Chill. Als solches kann man nicht auf der einen Seite behaupten, Teil eines wissenschaftlichen Unterfangens zu sein und dann auf der anderen Seite moralische Behauptungen zu machen. Genau das scheint zu sein, was hier passiert. Viertens haftet all dem eine gewisse Ironie an. Die kognitive Verhaltenstherapie ist nämlich, zumindest in Teilen, aus Becks kognitiver Therapie entstanden, welche gesunde Gedanken, zumindest zu einem sehr hohen Grad, mit rationalen Gedanken identifiziert, und behauptet hat, dass Kognition Emotionen verursachen würden. Als solches war die Idee, Menschen mit beispielsweise Depressionen zu behandeln, indem man ihre Gedankenmuster von pessimistischen zu optimistischen änderte. Das wird getan, indem man negative Hypothesen über sich selbst mit empirischen und logischen Mitteln testet. Wie sich jetzt aber herausstellt, führt das rationale Nachdenken über gewisse Aussagen, die durch den kognitiven Teil der kognitiven Verhaltenstherapie getätigt werden, selbst zu einer Verwerfung der genannten Lehren. Als solches scheint die Therapie zu dem Grad, zu dem Becks Ideen immer noch in der kognitiven Verhaltenstherapie vorkommen, teilweise selbstverdauend zu sein.

Die obige Kritik betrifft viele Aussagen, die von professionellen Therapeuten oder Ärzten im Bereich der mentalen Gesundheit gemacht werden, zumal viele Aussagen eine inhärent moralische Natur haben oder soziale Empfehlungen enthalten. Das ist an und für sich keine schlechte Sache, zumal Therapeuten, die tagtäglich mit Leiden konfrontiert werden, ein ungemeines Wissen darüber haben, was Menschen motiviert und betroffen macht. Aber solche Aussagen zu treffen ist trotzdem nicht kompatibel mit einem komplett wissenschaftlichen Unterfangen und kann auch nicht durch Forschung in diesem Bereich gerechtfertigt werden.

Damit befinden wir uns am Ende des ersten Teiles. Alle Therapeuten, die ich bisher gehabt habe, stehen bei mir in hoher Achtung, sowohl in Bezug auf ihre Persönlichkeiten als auch auf ihre intellektuellen Fähigkeiten. Als solches ist meine Kritik weiter oben auch nicht gegen eine spezifische Person, die Therapien ausführt, gerichtet, sondern vielmehr gegen die Art und Weise, wie Therapie gelehrt wird, und die Forschung im Allgemeinen. Denn sicherlich ist nichts falsch daran, nur das Beste für seine Patienten zu wollen, aber vielleicht gibt es eine Art an das heranzugehen, die weniger begrifflich verwirrt ist. Da ich der Wahrheit und Klarheit suchende Philosoph bin, der ich eben bin, stellen diese Dinge für mich am Ende des Tages nach wie vor ein Problem dar.

 

Zwangsstörung: Bei einer Zwangserkrankung treten sogenannte Zwangsgedanken und Zwangshandlungen auf. Zwangsgedanken äussern sich in zwanghaft immer wieder auftretenden Gedanken und Impulsen wie Zweifel, Befürchtungen, Grübel- oder Wiederholungszwänge (bestimmte Sätze oder Wörter müssen auf eine bestimmte Art und Weise oder eine bestimmte Anzahl von Malen wiederholt werden), deren Inhalt als unsinnig erkannt, gegen die aber nichts unternommen werden kann. Zwangshandlungen dagegen bezeichnen zwanghaft ausgeführte Handlungen wie beispielsweise der Zwang bestimmte Dinge immer wieder zu berühren oder zu zählen, deren Unterlassen zu starken Ängsten und Anspannung führt. Es treten nicht in jedem Fall beide Symptome auf1
Quellen:

1 „Zwangsstörung“. Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Zwangsst%C3%B6rung [Letzter Aufruf: 10.12.2019]

«Man versucht einfach das Mögliche zu tun: Viel zu den Erkrankungen zu lesen, selbst Hilfe zu suchen und die Problematik zu besprechen.»

Wie es ist, wenn die eigenen Kinder mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben

Mam2

Lieblingsgetränk: Cola Zero

Du hast zwei Kinder mit psychischen Erkrankungen. Wann hast du gemerkt, dass etwas nicht stimmt?

B*: Was mir bei beiden Kindern früh auffiel, war, dass sie einen grossen Gerechtigkeitssinn hatten und feinfühlig waren. Die Tochter war wissensdurstig, saugte jede Information auf und verarbeitete diese bereits mit 5/6 Jahren in Geschichten, die sie schrieb. Ich fand, dass die Tochter einfach mehr „Antennen“ hatte im Vergleich zu anderen Kindern und sie auch die Menschen sehr gut einschätzen konnte. Sie hatte aber immer auch eine Fantasie fürs „Dunkle“ und wurde öfters von Alpträumen in der Nacht geplagt, in denen sie verfolgt wurde. Da dachte ich Uff, hoffentlich macht sie sich nicht allzu viel Sorgen über dies und jenes.

Mit etwa 10 Jahren bekam die Tochter starke Angstzustände, wollte uns immer in der Nähe haben, was überhaupt nicht ihrer Art entsprach, denn sie war nie ein ängstliches Kind gewesen. Man denkt dann natürlich zuerst an die Hormone oder Vorpubertät. In dieser Zeit fragte ich auch bei einer Psychiaterin um Rat. Diese meinte, dass dies eine Phase sei und vergehen werde. Nach meinem Empfinden dauerten diese sichtlichen Angstzustände aber sicher fast zwei Jahre an. Die Ängste kamen und gingen, dazu gesellten sich depressive Verstimmungen, die mehrere Jahre mal ausgeprägter, mal weniger ausgeprägt da waren.

Bei meinem Sohn merkte ich ebenfalls, dass er sensibler in der Wahrnehmung ist als andere Leute und sich mehr überlegte als der ‘grosse Haufen’. Was mich an ihm beeindruckte, war, dass er schon sehr früh eine ausserordentliche Feinmotorik zeigte und beispielsweise mehrere Stunden an einem Roboteraufbau verweilen konnte. Beim Sohn stellte ich aber im Gegensatz zur Tochter bereits mit etwa 3 Jahren seine Ängstlichkeit fest. Er erwachte sehr oft in der Nacht und hatte komische «Krampfanfälle» und Weinattacken. Aussenstehende Leute konnten ihn stark verunsichern und einschüchtern. Mit etwa 8 Jahren wurde er immer stiller und «kapselte» sich ab. In dieser Zeit begann sein Händewaschen, welches immer schlimmer wurde, dazu gesellten sich starke Gedanken- und Sprechzwänge. Auch hier konsultierte ich die Psychiaterin und auch hier war ihr Motto: Durchhalten, es wird dann schon besser.

Wie geht es den Kindern heute?

B*: Ich finde, dass die Tochter für ihr Alter sehr „geerdet“ ist und mit ihren Handicaps gut umgehen kann. Sie redet offen darüber und holt sich bei Bedarf nach wie vor Hilfe. Beim Sohn haben sich die Zwänge verbessert. Er ist offener und gesprächiger geworden. Das tägliche Chaos, die Kauferei und sich fürs nötige Schulische aufzuraffen, sind nach wie vor Knackpunkte.

Ist es schwierig, als Mutter oder als Familie den Zugang zu einem Kind mit einer psychischen Erkrankung zu finden? Wie würdest du sagen, geht man im Falle einer Erkrankung am besten vor?

B*: Also schwierig ist es sicher nicht, wenn die Kinder einem am Herzen liegen. Man versucht einfach das Mögliche zu tun: Viel zu den Erkrankungen zu lesen, selbst Hilfe beim Psychiater zu suchen und die Problematik mit dem Partner und den allerbesten Freund*innen zu besprechen. Dazu ist es wichtig, dass man als Ehepaar zusammenhält und am gleichen Strick zieht, auch wenn es einem vielleicht nicht immer gelingt.

Meine Erfahrungen haben gezeigt, dass man über einiges einfach hinwegsehen muss. Manchmal ist es besser, nachzugeben und locker zu lassen. Wenn möglich, sollte man auch keinen Druck auf die Kinder ausüben, sondern als Eltern immer Hilfestellungen anbieten, sei es fürs Lernen, fürs Aufräumen, für irgendwelche Notfallübungen wegen zeitlicher Knappheit oder anderem und Ruhezeiten einplanen und Strukturen vorleben. Man muss also flexibel bleiben. Darüber hinaus lernen die Kinder häufig auch selbst, wie sie mit ihrer Erkrankung umgehen können, sie entwickeln «Coping Strategien». Bei den Erkrankungen unserer Kinder im Spezifischen fand ich auch die richtige Medikation äusserst wichtig.

War die Akzeptanz, dass die eigenen Kinder psychische Erkrankungen haben, auch mit einer Art Trauerprozess verbunden – Trauer darüber, dass die eigenen Kinder nicht gesund sind? Oder mit Schuldgefühlen?

B*: Trauergefühle hat man schon. Es ist aber eher eine Niedergeschlagenheit und Ratlosigkeit. Schuldgefühle plagen mich nach wie vor enorm. «Was habe ich alles falsch gemacht», frage ich mich oft. Man verfällt dann in einen «Gedankenstrudel».

Ich war bestimmt in vielem inkonsequent, würde aber meine Kinder trotzdem wieder genau gleich erziehen. Was heisst aber schon erziehen. Ich erachte die Vorbildfunktion als Eltern wichtiger.

Wie verliert man sich in solchen Zeiten nicht selbst? Wie wichtig ist es, eine gewisse emotionale Distanz zu waren?

B*: In schwierigen und harten Zeiten, die es vor allem mit unserem Sohn gab, ist es wichtig, etwas zu tun, was einem Freude bereitet, sei es regelmässiger Sport oder der Beruf.

Ich war die letzten Jahre daheim als Hausfrau und verrichtete meine Arbeit immer sehr gerne. Ich konnte meine  kreativen Seiten ausleben und dadurch Entspannung gewinnen. Man muss sich bewusst aufraffen, voraus schauen und versuchen, positiv zu denken.

Eine emotionale Distanz konnte ich aber kaum schaffen und ich bemerkte irgendwann, dass die ganzen Herausforderungen mich an den Rand der Verzweiflung brachten. In solchen Momenten sind sofortige Gespräche, SMS oder Whatsapp mit dem Partner oder Psychiater Gold wert.

Ganz ehrlich: Können solche Erkrankungen manchmal nicht auch einfach nerven? Was machst du in solchen Situationen?

B*: Solche Erkrankungen strapazieren die Nerven enorm. Das dauernde Händewaschen, das tägliche Chaos, die Notwendigkeit, immer an alles denken müssen zu müssen – all das ist auf die Dauer äusserst anstrengend und kann zu Depressionen führen. Flexibilität ist – um es nochmals zu betonen – in jeder Hinsicht stark gefragt.

In solchen Situationen fällt halt dann auch das eine oder andere forsche, gehässige oder unangebrachte Wort und man ist wütend. Im Nachhinein hatte ich immer ein schlechtes Gewissen, dass ich so reagiert hatte. Später entspannte ich mich jeweils in einem Bad und da flossen dann halt die Tränen.

Was würdest du anderen in einer ähnlichen Situation raten?

B*: Die Ruhe bewahren, einen zuverlässigen, erfahrenen, spezialisierten und kompetenten Psychiater zu Rate ziehen. Unser Psychiater unterstützt uns seit Jahren. Sich übers Internet Informationen und Ratschläge einholen. Und nicht zuletzt: Mit dem Partner Ferien und Auszeiten zum Entspannen nehmen.

Schlusswort

Ich bin in jedem Fall stolz auf unsere Kinder. Sie sind eine Bereicherung fürs Leben und werden ihren Weg trotz allem gut meistern. Beide sind körperlich gesund, liebenswürdig, angepasst, haben einen sehr guten Charakter, sind intelligent und sind immer für Neues zu begeistern – und das ist sehr viel wert.

«Ich erlebe zwei- bis dreimal in der Woche einen Schub»

Jung und schizophren – wie fühlt sich das an?

Renato

Lieblingsgetränk: Stange Bier

Wann und wie ist deine Krankheit ausgebrochen?

R*: Die ersten Anzeigen zeigten sich, als ich eine Weiterbildung absolvierte. Während dieser Zeit konsumierte ich eine grosse Menge Cannabis, da ich dachte, das helfe mir, meine kognitiven Fähigkeiten zu erweitern, und so länger und besser zu lernen. Das erwies sich allerdings als grosser Irrtum.

Der Anfang meiner Erkrankung war so, dass mein Vorgesetzter mich nach der Hochzeitsfeier eines Arbeitskollegen ins Büro zitierte und mir nahelegte, mich in Behandlung zu begeben. Wahrscheinlich hatte ich während der Hochzeit aufgrund akustischer Halluzinationen mit mir selbst gesprochen. Genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Mein erster stationärer Aufenthalt dauerte dann drei Wochen. Zu dieser Zeit war die Rede von einem Burnout. Danach ging ich aber bereits wieder 100% arbeiten.

Die erste richtige Psychose hatte ich dann nach dem Besuch meines Vaters in Brasilien. Ich wusste, dass sein Gesundheitszustand sehr schlecht war und wollte quasi noch Abschied nehmen. Auch nach Brasilien konnte ich den Cannabiskonsum nicht einschränken und klappte dann plötzlich in einem Rauschzustand zusammen. Es fühlte sich an, als würde mein ganzer Körper brennen. Ich hatte starkes Gedankenlautwerden – man kann es auch als „Stimmenhören“ bezeichnen – sowie Beobachtung- und Verfolgungswahn. Und ich verspürte diverse andere Nebeneffekte wie Beeinträchtigungswahn, Depersonalisierung, Angst, Ich-Störungen und Affektverflachung. Ich behaupte, dass dies eine drogeninduzierte Psychose war. Seither habe ich eine gewisse Restsymptomatik und erlebe 2-3 Mal in der Woche einen Schub.

Wie sieht so ein Schub aus und wie fühlt er sich an?

R*: Ich habe dann beispielsweise Halluzinationen und starke Ängste; ein innerliches Gefühl der Bedrohung, die man sich in einem Hirngespinst zusammenreimt. Der Stresspegel ist immer sehr hoch. Ich habe dann auch, was man «Gedankenlautwerden» nennt, das heisst Gedanken, die sich autonom katastrophisieren. In einem Schub bin ich immer auch recht suizidal und muss stark Alternativgedanken entwickeln. Es plagt einem wirklich. Und die Erwartungsangst vor dem nächsten Schub ist natürlich auch immer da. Aber es ist sehr schwierig zu umschreiben.

Besteht die Möglichkeit, dass diese Schübe mal nachlassen oder ein anderes Muster annehmen? Oder ist das eher dem Zufall überlassen?

R*: Es ist schon eher dem Zufall überlassen. Mein Psychiater sagt mir, ich müsse mich mit diesen Schüben anfreunden, sie annehmen und mit ihnen umzugehen lernen. Mittlerweile gelingt mir das auch bis zu einem gewissen Grad, weil sie ja nicht anhaltend sind – sie gehen wieder vorbei. Und das gibt mir eine gewisse Zuversicht, das Ganze vorbeiziehen zu lassen. Trotzdem muss ich dann in diesem Fall meistens zu einem Beruhigungsmittel greifen.

Bei einer Schizophrenie denkt man oftmals nur an die sogenannten Positivsymptome, also beispielsweise Halluzinationen und Psychosen. Aber eine Schizophrenie umfasst auch Negativsymptome. Hast du auch solche Symptome und wie sehen diese bei dir aus?

R*: Ich habe recht viele solcher Negativsymptome und zwar sowohl krankheits- als auch medikamentenbedingt: Antriebslosigkeit, Interessen- und Begeisterungsunfähigkeit…

Ich weiss nicht genau, wie es ohne die Medikamente wäre, aber ich habe schon das Gefühl, dass sie mich dämpfen. Andererseits bin ich mir zu 90% sicher, dass ich, wenn ich sie absetzen würde, wieder in eine längere Psychose rutschen würde. Und das will ich nie mehr erleben.

Welcher Teil beeinträchtigt dein Leben mehr – die Positiv- oder die Negativsymptome?

R*: Die Hauptbeeinträchtigung kommt schon von den Positivsymptomen, also den Schüben, und der damit verbundenen Erwartungsangst. Das ist das Drama. Mit der Negativsymptomatik komme ich einigermassen klar. Wenn ich z.B. zuhause den Haushalt machen muss, denke ich schon jeweils: «Darauf habe ich jetzt keinen Bock», aber das geht wohl etwa jedem gleich.

Wenn man unter einer Affektabflachung leidet, könnte man ja auch – etwas plakativ gesprochen – sagen, dass das einem grundsätzlich egal sein kann, weil man eben affektverflacht ist.

R*: Man könnte schon sagen, dass man durch diese Affektverflachung etwas kalt wird. Man kann Emotionen nicht mehr so einfach aufrufen.

Früher war ich ein sehr emotionaler Mensch. Und das merke ich schon, dass das jetzt anders ist. Euphorie ist zum Beispiel gar kein Thema mehr bei mir.

Vermisst du das manchmal?

R*: Ja, definitiv.

Wie ist das für dein Umfeld?

R*: Für meinen Bruder hat es sehr lange gedauert zu akzeptieren, dass ich krank bin. Ich war immer der grosse Bruder, das Vorbild, wenn man so will. Ich schaute immer zu ihm. Mittlerweile kann er es akzeptieren, weil er sich sehr mit der Psychoanalytik beschäftigt. Aber meine Krankheit wird eben immer auch mit ihm assoziiert. Man fragt immer: «Ah, wie geht es deinem Bruder?» und solche Dinge. Und das ist für ihn nicht immer ganz einfach.

Meine Schwester macht das relativ gut mit mir. Sie hört mir zu, wenn ich anrufe, und ist von dem her immer da für mich. Meine Mutter war eben auch schon stark schizophren, hörte Stimmen, die sie fertig machten. Von dem her kennen wir alle das eigentlich recht gut. Aber deshalb ist es nicht einfach.

Was sind für dich die grössten Hürden im Alltag mit deiner Erkrankung?

R*: Auf Platz Nummer 1 wären sicher die alltäglichen Dinge zu meistern, wie beispielsweise den Briefkasten zu leeren. Davor habe ich oftmals Angst. Oder auch einkaufen zu gehen. Es ist auch schwierig, sich nicht so einnehmen zu lassen; dass man den Stimmen beispielsweise nicht zu viel Aufmerksamkeit widmet, dass man sich auf den Moment konzentriert und sich gute Gedanken zuspricht.

Wie kann man dich am ehesten unterstützen?

R*: Zuhören ist das, was mir am meisten hilft. Ansonsten kann man eigentlich nicht viel tun. Das liegt bei mir. Ich muss mit meiner Krankheit umgehen.

Was wünschtest du, hättest du zu Beginn deiner Krankheit gewusst, das du jetzt weisst, damals aber nicht?

R*: Ich hätte die Finger von Cannabis gelassen. Und ich hätte vielleicht nicht so wie ein Tier gearbeitet, sondern wäre alles eher ruhiger angegangen.

Kannst du denn momentan arbeiten?

R*: Es ist schwierig. Rein kognitiv wäre alles vorhanden. Aber die Stabilität ist ein Problem.

Ich würde gerne arbeiten. Auch für die Selbstbestätigung. Es ist nicht so, dass ich mir sage: «Ich bin jetzt IV-Rentner, ich geniesse es jetzt». Aber ich weiss nicht, wie die Schübe das zulassen.

Hast du irgendeinen Ratschlag für Menschen in einer ähnlichen Situation parat?

R*: Ich würde vulnerablen Personen raten, sich möglichst wenig Stress auszusetzen – ob beruflich oder privat. Lasst die Hände weg von Drogen. Haltet eure sozialen Kontakte aufrecht und isoliert euch nicht. Bewegt euch genügend. Versucht nicht zu viel zu grübeln. Und: Lebt jetzt, lebt im Moment.

 

 

 

 

Schizophrenie: Eine psychische Krankheit, welche nicht, wie häufig fälschlicherweise angenommen, zu einer "gespaltenen" Persönlichkeit führt, sondern sich in sogenannten Positivsymptomen (Denkstörungen, Sinnestäuschungen, Wahn), Negativsymptomen (Affektabflachung, Apathie, motorische Defizite) und einer Reihe kognitiver Symptome (Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen) äussert. Die Krankheit umfasst verschiedene Unterformen und individuelle Störungsbilder1.

 

 

Quellen:

1„Schizophrenie“. Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Schizophrenie [Letzter Aufruf: 05.08.2019].

«Ich konnte irgendwann einfach nicht mehr anders, als mich vor lauter Verzweiflung und Hilflosigkeit zu übergeben»

Bulimie und ich – aus dem Leben einer 14-jährigen

Joelle

Lieblingsgetränk: Grüntee

Es war Spätsommer. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten einem freundlich entgegen und das Eis tropfte vom Stiel. Genau wie dieses Bild sollte doch das Leben einer normalen 14-jährigen aussehen: Fröhlich und einfach. Doch gibt es nicht auch das andere Leben – das, welches totgeschwiegen wird und von welchem man nicht spricht? Das Leben, das nicht fröhlich und einfach ist?

Aus einem solchen Leben möchte ich erzählen.

Meine Kindheit war schwer, sehr schwer. Und nun stand ich da. Jung und alleine, so dachte ich.  Alleine in einer vier-köpfigen Familie, in welcher der Tag von Alkohol geprägt war und in welcher ich funktionieren musste wie eine Erwachsene. Die letzten acht Jahre waren nicht spurlos an mir vorbeigegangen: Ich war erschöpft, wütend, verzweifelt und vor allem komplett überfordert mit der familiären Situation und mit mir selbst. Selbstzweifel kamen auf: War ich an allem schuld? War ich nicht gut genug? Was hatte ich falsch gemacht? Wieso ich?

Ich musste den Stress irgendwie loswerden. Anfangs verletzte ich mich selbst. Dies bekam ich aber sehr schnell selbst in den Griff, da ich merkte, dass es der falsche Weg war. Aber dann brauchte ich eine neue Strategie. Und die fand ich: Mich wortwörtlich auszukotzen. Anfangs war es vielleicht einmal alle drei Tage, danach wurde es zur Gewohnheit. Doch tat ich das aus Angst, zu dick zu sein? Tat ich das, um der Gesellschaft zu gefallen, weil mir die Zahl auf der Waage zu hoch war?  Anfangs vielleicht, aber mir wurde schnell bewusst, dass dies nicht der einzige Grund war. Den wollte ich jedoch lange Zeit nicht wahrhaben. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich schwach und psychisch und emotional völlig überfordert war. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, doch gibt es dafür jemals einen richtigen Zeitpunkt?  Es passte einfach nicht, nicht damals. Ich musste doch irgendwie meine Familie retten, irgendwie alle auf dem gleichen Boot behalten; stark sein, wie ich schon mein Leben lang hatte stark sein müssen.

Ich fühlte mich teils innerlich so leer, konnte keine Gefühle zulassen und wusste nicht, wie mit meiner Verzweiflung umzugehen. Meist funktionierte ich nur noch irgendwie, denn irgendwie musste ich ja alles zusammenhalten. Und meist hatte ich nur wenig Zeit, um über all den Scheiss nachzudenken. Doch wenn ich Zeit hatte, wurde mir schon beim Gedanken daran übel. Ich konnte irgendwann einfach nicht mehr anders, als mich vor lauter Verzweiflung und Hilflosigkeit zu übergeben. Es fühlte sich so befreiend an, so als würde mir etwas von meiner Last abgenommen werden. Ich fühlte mich danach jeweils für einen kurzen Moment befreit von all dem Stress, von all der Verantwortung. Und ja, mir war bewusst, dass mein Umfeld dachte, ich sei an Bulimie erkrankt. Und nein ich bin nicht stolz darauf.

Lange, vielleicht auch viel zu lange, konnte ich der ganzen Welt vorspielen, in was für einer heilen Familie ich lebte. Doch irgendwann machte ich mit meinem doch sehr speziellen Essverhalten einige Leute auf mich aufmerksam. Es war eine ganz tolle Lehrperson, die schliesslich bemerkte, dass bei mir irgendetwas nicht stimmen konnte. Nach langer langer Zeit und viel Feingefühl ihrerseits, vertraute ich mich ihr an. Wir sprachen viel und oft über meine Probleme, bis ich mich irgendwann dazu durchringen konnte, einen Termin bei unserer Schulsozialarbeiterin auszumachen. Diese versuchte, mir bei meinen familiären Problemen zu helfen, unterstützte mich, soweit ich es zuliess. Denn Vertrauen aufzubauen fiel mir damals sehr schwer. Aufgrund meiner Essstörung und meiner psychischen Abgeschlagenheit verwies sie mich weiter an eine Psychiaterin. Zu dieser konnte ich für meine Verhältnisse schnell eine Vertrauensbasis aufbauen. Sie zeigte mir auf, welche Probleme ich hatte und wie wir diese gemeinsam in Angriff nehmen konnten. Ich fand Methoden und Wege, welche für mich stimmig waren, um aus dem Teufelskreis der Bulimie herauszukommen. Jedoch dauerte es seine Zeit, bis ich wieder in ein normales Essverhalten kam.

Auch heute, fast sieben Jahre später, denke ich gerade in Situationen, in denen ich psychisch überfordert bin und an meine Grenzen komme, darüber nach, es wieder zu tun. Allerdings kenne ich heute Methoden und Wege, mich nicht wieder zu übergeben. Ich weiss heute auch, dass sich zu übergeben keine Lösung ist; dass ich stark bin und dass, wenn ich es einmal nicht bin, das auch in Ordnung ist.

Ich kann nach all den Jahren nur mit zwei Personen darüber sprechen und selbst dies ist für mich eine grosse Herausforderung.  Die Bulimie ist ein Teil meines Lebens, den ich gerne streichen würde – und doch weiss, dass er mich stärker gemacht hat.

 

Bulimie: Eine Essstörung, die üblicherweise durch Essattacken gekennzeichnet ist, in denen der oder die Betroffene eine grosse Menge an Nahrung in kurzer Zeit zu sich nimmt und diese dann beispielsweise über Erbrechen oder Abführmittel wieder loszuwerden versucht1.

 

Quelle:

1 „Bulimie“. Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Bulimie#Definitionen [Letzter Aufruf: 29.06.2019]

Du bist anstrengend, aber ich mag dich

Über ADS und Beziehungen

IMG-20190318-WA0002~3

Lieblingsgetränk: Traubensaft

Anmerkung: Die hier vorkommenden Namen wurden geändert.

ADS wurde bei mir erst im Jugendalter diagnostiziert. Inzwischen weiss ich etwa die Hälfte meiner Lebenszeit, was mit mir eigentlich nicht stimmt. Doch weiss ich das wirklich? Habe ich diese Krankheit wirklich verstanden? Auf einer abstrakten Ebene, denke ich, ist dies sehr wohl der Fall, doch erlebe ich immer wieder noch die Frustration, welche sie mit sich bringt. Warum fallen mir gewisse Dinge so schwer, welche anderen so leicht fallen?

Meine Wahrnehmung der Welt ist entschieden anders. Reize zu diskriminieren, fällt mir unglaublich schwer. Fehler in der Grammatik und Rechtschreibung eines Textes zu sehen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. In einem Gespräch verliere ich den Faden. Den Fokus auf eine einzige Arbeit zu legen, ist nur möglich mit einer Vielzahl von Strategien.

Ständig verliere ich Dinge und jede Zugfahrt ist mit der Angst verbunden, erneut dem Fundbüro eine Anfrage schicken zu müssen.

Damit ich meinen Alltag bewältigen kann, folge ich sturen Abläufen. Meine Arbeitszeit ist klar eingeteilt und abgestimmt auf den Zyklus des Ritalin. Auch nach über Jahren der konstanten Einnahme dieses Medikamentes spüre ich dessen Nebenwirkungen. Ich mag nichts essen und phasenweise erhöht es mein Aggressionspotential während der Wirkungszeit. Ritalin senkt auch mein Empathiegefühl. Doch es hilft mir eben auch, Reize zu diskriminieren, die andere Menschen ausblenden können; es hilft mir, meine Gedanken auf 2,3,4 Themen zu fokussieren und nicht auf 5,6,7,8,9 oder 10. Ich kann meine Arbeit denn nur gut erfüllen, wenn ich das Medikament nehme.

Früher empfand ich die Schwächen, die ich durch die ADS habe, als demütigend und bin nicht offen mit meiner Erkrankung umgegangen. Heute informiere ich meine Arbeitskolleg*innen und auch Freunde darüber. Sie sollen nicht denken, dass meine Nachlässigkeit etwas mit Desinteresse zu tun hat, sondern wissen, dass ich manchmal einfach nicht anders kann. Aber was geschieht mit jenen, welche mir besonders nahe sind? Was geschieht mit denen, welche all das fast täglich mit mir durchmachen, welche mein Chaos ebenso verstehen müssen wie die sturen Abläufe? Abläufe, die oftmals so stur sind, dass man sie eher bei jemanden mit Asperger vermuten würde, als bei jemandem mit ADS?

AD(H)S: Eine Aufmerksamkeits(-Hyperaktivitäts-)Störung, kurz AD(H)S, zeichnet sich durch Probleme in der Regulation von Aufmerksamkeit und Impulskontrolle aus. Betroffene haben Mühe, sich zu konzentrieren oder ihre Konzentration angemessen zu lenken, sind häufig desorganisiert und zeigen weitere Symptome wie emotionale Labilität oder impulsives Verhalten. Manche Betroffenen erleben zudem eine beständige, übermässige körperliche Unruhe (Hyperaktivität). Eine AD(H)S kann sich auf vielfältige Art und Weise äussern und führt nicht in jedem Fall zu behandlungsbedürftigen Beeinträchtigungen1.

In meinen Leben führte ich bis jetzt drei romantische Beziehungen. Die erste dauerte etwa zehn Jahre, die zweite ein halbes und die jüngste hat gerade erst begonnen.

Robin war immer sehr bemüht, meine Krankheit zu verstehen, doch vieles gelingt Robin bis heute nicht. Robin hat die Krankheit eher toleriert als wirklich verstanden. Doch das klingt jetzt härter als es gemeint ist. Die Beziehung begann bevor ich wirklich therapeutische Hilfe in Anspruch genommen habe und ich hatte viele meiner heutigen Strategien noch nicht zur Verfügung; Strategien, die ich zum Teil auch erst mit der Hilfe von Robin entwickeln konnte.

Robin hat hunderte von Stunden damit verbracht, meine Fehler zu kompensieren. Hat unzählige Mails und fast jede meiner akademischen Arbeiten korrigiert. Hat immer wieder die Dinge an den richtigen Platz geräumt und auf meinen Essrhythmus Rücksicht genommen. Für viele Dinge bin ich Robin sehr dankbar und doch kann ich heute den Ärger manchmal nicht zurückhalten. Zu oft fühlte ich, wie sehr diese Dinge für Robin eine Last waren, wenn wieder einmal wiederholt wurde, dass eine Rechtschreibregel doch schon so oft erklärt worden war oder Robin wütend nach einer Haarbürste fragte, welche ich irgendwo hingelegt hatte. Es entwickelte sich daraus mehr als nur ein Streit und es dürfte wohl einer der Gründe sein, dass wir uns nach 10 Jahren schliesslich trennten.

Ich konnte Robin meine Krankheit nie wirklich verständlich machen und das war frustrierend. Doch zeigt die Geschichte auch, welche Anforderungen ADS an die Angehörigen stellt. Wie frustrierend muss es sein, immer wieder das Gleiche tun zu müssen und dies dann auch noch bei einer Krankheit, die nicht offensichtlich ist. Wenn es darum gegangen wäre, dass Robin mir täglich geholfen hätte, eine Treppe zu überwinden, weil ich ein Rollstuhlgänger gewesen wäre – ich glaube, dies hätte unsere Beziehung viel weniger belastet. Es wäre dann klar gewesen, warum ich jedes mal Hilfe gebraucht hätte. Doch die ADS ist auf den ersten Blick unsichtbar.

Die Schwächen der ADS lassen sich kompensieren, doch sie gehen nicht weg. Eine ADS zu haben oder mit einem Menschen zusammen zu sein, welcher eine ADS hat, bedeutet genau das zu akzeptieren. Es bedeutet sehr oft, dass eine 80% Lösung das beste ist, was erreicht werden kann, und dass die Angehörigen manchmal die übrigen 20% beisteuern müssen. Es bedeutet aber auch für uns Betroffene, dass wir uns darüber klar werden müssen, wann wir diese 20% wirklich brauchen; dass wir vielleicht einfach damit leben müssen, dass Dinge manchmal nicht perfekt sind und andere diesen Mangel an Perfektion bemerken; dass wir unsere Angehörige davor schützen, die Dinge immer für uns beenden zu müssen.

Die Beziehung mit Robin ist aber nicht an all dem zerbrochen. Wir merkten irgendwann einfach, dass sich unsere Wege auseinander entwickelt hatten. Unsere Zielen waren nicht mehr dieselben und eine gemeinsame Zukunft ergab eines Tages keinen Sinn mehr. In dieser Trennungsphase, welche wohl über drei Jahre dauerte, merkte ich auch, dass ich für Menschen anders empfand als dies der Norm entsprach. Ich fühle das, was man als “Polyamorie” bezeichnet. So beschreiben sich Menschen, welche tiefe romantische Emotionen für mehrere Menschen zugleich empfinden. Es ist aber auch ein Begriff, welcher bestimmte moralische Vorstellungen beschreibt wie Beziehungen sein sollten, nämlich frei von Besitzansprüchen.

Polyamorie: Polyamorie bezeichnet ein nicht-monogames Beziehungskonzept, bei welchem eine Person mehrere romantische Beziehungen zum gleichen Zeitpunkt eingehen kann. Alle beteiligten Personen sind sich hierbei über einander im Klaren. In Abgrenzung hierzu steht das Konzept der offenen Beziehung, bei der zwei Partner mehrere sexuelle Beziehungen eingehen mögen, die Liebesbeziehung an sich allerdings monoamor bleibt2.

Im Verlauf der Trennung von Robin lernte ich Dominique kennen. In dieser kurzen aber intensiven Beziehung zeigte sich ein weiteres Problem. Ich brauche, Strukturen um zu funktionieren. Ich muss wissen, wann ich was zu tun habe und wann welcher Mensch welche Erwartungen an mich stellt. Ohne diese Strukturen kann ich meinen Alltag nicht bewältigen und eine Partnerschaft muss sich diesen Strukturen anpassen können. Dominique hatte selber Probleme. Eine Folge dieser Probleme war, dass es Dominique nicht möglich war, mir die Verbindlichkeit zu geben, die ich brauchte. Anders als bei Robin bin ich mir sicher, dass hier die ADS ein wirklich entscheidender Faktor für die Trennung war. Meine sturen Abläufe waren nicht kompatibel mit den Bedürfnissen von Dominique. Doch es zeigte sich auch etwas, das mir gut tat. Dominique konnte Dinge auch einfach mal sein lassen. Das kleine Chaos, dass ich verursachte, störte hier nicht und ich merkte, wie viel Konfliktpotential dadurch verschwand.

Irgendwann kam Sascha. Sascha wusste von Anfang an, was meine Eigenheiten waren. Ich hatte gelernt, wie eine ADS zu Problemen in meinen Beziehungen führte, und kannte auch all die anderen Koffern, die ich mit mir trug, recht gut. Bei unserem ersten Date erzählte ich daher Sascha, dass mein Abschweifen nichts mit Desinteresse zu tun hätte; dass ich mich manchmal in Gedanken verlieren würde und sehr impulsiv das Thema wechseln konnte, nur um dann sogleich wieder zum ursprünglichen Thema zurückzukehren. Was passierte, war, dass ich auf einmal nicht mehr Scham empfand zuzugeben, dass ich etwas verpasst hatte. Ich bat Sascha einfach darum, es zu wiederholen. Denn Sascha reagierte darauf, ohne dass ich eine Verärgerung spürte. Sascha wiederholte sich einfach. Die Themenwechsel waren für Sascha ebenfalls kein Problem, vielmehr machte Sascha einfach mit und sprang mit mir hin und her.

Ich fühlte mich zum ersten mal wirklich verstanden. Es dauerte aber lange, bis wir ein Paar waren. Ich hatte meine beiden vorherigen Beziehungen noch nicht verarbeitet und auch der Gedanke einer Polybeziehung war für Sascha etwas Neues, das zuerst einmal verdaut werden musste. Wir wurden deshalb Freunde, bevor wir ein Paar wurden und all die Gespräche, welche notwendig waren, um die Polyelemente zu erklären, führten zu einer Gesprächskultur, die ich vorher so nicht gekannt hatte; einem Verständnis des anderen, wann 80% einfach mal genügen mussten und wann ich darauf angewiesen war, dass Sascha die übrigen 20% übernahm.

Inzwischen lebe ich de facto mit Sascha zusammen und wir werden bald in eine gemeinsame Wohnung ziehen. Habe ich Angst davor, dann dieselben Konflikte zu erleben wie mit Robin und Dominique? Nein, denn Sascha ist es gelungen, diese Dinge zu verstehen, und mir ist es gelungen, sie Sascha zu erklären. Wenn ich noch am arbeiten bin, dann lässt mich Sascha in Ruhe. Denn Sacha weiss, dass jeder weitere Reiz nur dazu führt, dass ich mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren kann. Wenn ich die Haarbürste an den falschen Ort lege, dann fragt Sascha danach ohne einen Vorwurf in der Stimme. Ein Chaos darf auch mal ein Chaos sein und wird notfalls gemeinsam aufgeräumt oder eben einfach als das akzeptiert, was es ist: Nämlich eine andere Art, Dinge zu ordnen.

Sascha musste lernen, sich auch mal durchzusetzen und meinen Fokus zu erzwingen. Es ist nicht immer möglich, dutzende Dinge zugleich zu besprechen und selber merke ich es oftmals nicht, dass ich genau das gerade tue. Sascha versucht dann, einen klaren Fokus herzustellen, bei dem Sascha selbst nicht untergeht. Ich glaube am schwierigsten ist es für Sascha aber zu verstehen, wann man sich in emotionaler Hinsicht nicht auf mich verlassen kann. An den Tagen, an denen ich Ritalin nehme, fühle ich die Bedürfnisse von Sascha nur schwach. Ich merke nicht, wann Sascha in den Arm genommen werden will. Sascha muss Nähe und Verständnis dann explizit einfordern und für mich ist etwas, das ich in dem Moment nur abstrakt begreife. Wir werden sehen, wohin das alles führt.  

Ich habe in den vergangen Jahren letztlich gemerkt, dass Poly-Beziehungen sich auch gerade wegen meiner ADS positiv auf mein Wohlbefinden auswirken. Sie erlauben einen klaren und intensiven Fokus auf eine einzelne Person. Grenzen werden dabei ausgehandelt und explizit gemacht. Unausgesprochenes wird ausgesprochen und Emotionen können sich auch impulsiv entfalten ohne, dass sie vom Gegenüber als Bedrohung wahrgenommen werden. Poly heisst für mich auch, sehr stark im Moment mit einem einzelnen Menschen zu sein, und auch das hilft mir, meinen Fokus zu halten. Gibt es vielleicht einen Zusammenhang zwischen Polyamorie und ADS? Sind Menschen, die polyamore fühlen, nicht einfach grundsätzlich unfähig sich auf einen einzelnen Menschen einzulassen? Nur soviel soll gesagt sein: Dies ist genauso unangemessen wie zu behaupten, dass Homosexualtität nur eine Phase sei oder ein bisexueller Mensch sich einfach nicht entscheiden könne.

Hast du Fragen zum Thema ADS und (Poly)-Beziehungen? Dann kann Gina gerne den Kontakt zwischen uns herstellen.

 

 

Quellen:

„Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung“. Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivit%C3%A4tsst%C3%B6rung#Nach_ICD-10 [Letzter Aufruf: 23.03.2019]

2 „Polyamorie“.Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Polyamorie [Letzer Aufruf: 23.03.2019].