Du bist anstrengend, aber ich mag dich

Über ADS und Beziehungen

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Lieblingsgetränk: Traubensaft

Anmerkung: Die hier vorkommenden Namen wurden geändert.

ADS wurde bei mir erst im Jugendalter diagnostiziert. Inzwischen weiss ich etwa die Hälfte meiner Lebenszeit, was mit mir eigentlich nicht stimmt. Doch weiss ich das wirklich? Habe ich diese Krankheit wirklich verstanden? Auf einer abstrakten Ebene, denke ich, ist dies sehr wohl der Fall, doch erlebe ich immer wieder noch die Frustration, welche sie mit sich bringt. Warum fallen mir gewisse Dinge so schwer, welche anderen so leicht fallen?

Meine Wahrnehmung der Welt ist entschieden anders. Reize zu diskriminieren, fällt mir unglaublich schwer. Fehler in der Grammatik und Rechtschreibung eines Textes zu sehen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. In einem Gespräch verliere ich den Faden. Den Fokus auf eine einzige Arbeit zu legen, ist nur möglich mit einer Vielzahl von Strategien.

Ständig verliere ich Dinge und jede Zugfahrt ist mit der Angst verbunden, erneut dem Fundbüro eine Anfrage schicken zu müssen.

Damit ich meinen Alltag bewältigen kann, folge ich sturen Abläufen. Meine Arbeitszeit ist klar eingeteilt und abgestimmt auf den Zyklus des Ritalin. Auch nach über Jahren der konstanten Einnahme dieses Medikamentes spüre ich dessen Nebenwirkungen. Ich mag nichts essen und phasenweise erhöht es mein Aggressionspotential während der Wirkungszeit. Ritalin senkt auch mein Empathiegefühl. Doch es hilft mir eben auch, Reize zu diskriminieren, die andere Menschen ausblenden können; es hilft mir, meine Gedanken auf 2,3,4 Themen zu fokussieren und nicht auf 5,6,7,8,9 oder 10. Ich kann meine Arbeit denn nur gut erfüllen, wenn ich das Medikament nehme.

Früher empfand ich die Schwächen, die ich durch die ADS habe, als demütigend und bin nicht offen mit meiner Erkrankung umgegangen. Heute informiere ich meine Arbeitskolleg*innen und auch Freunde darüber. Sie sollen nicht denken, dass meine Nachlässigkeit etwas mit Desinteresse zu tun hat, sondern wissen, dass ich manchmal einfach nicht anders kann. Aber was geschieht mit jenen, welche mir besonders nahe sind? Was geschieht mit denen, welche all das fast täglich mit mir durchmachen, welche mein Chaos ebenso verstehen müssen wie die sturen Abläufe? Abläufe, die oftmals so stur sind, dass man sie eher bei jemanden mit Asperger vermuten würde, als bei jemandem mit ADS?

AD(H)S: Eine Aufmerksamkeits(-Hyperaktivitäts-)Störung, kurz AD(H)S, zeichnet sich durch Probleme in der Regulation von Aufmerksamkeit und Impulskontrolle aus. Betroffene haben Mühe, sich zu konzentrieren oder ihre Konzentration angemessen zu lenken, sind häufig desorganisiert und zeigen weitere Symptome wie emotionale Labilität oder impulsives Verhalten. Manche Betroffenen erleben zudem eine beständige, übermässige körperliche Unruhe (Hyperaktivität). Eine AD(H)S kann sich auf vielfältige Art und Weise äussern und führt nicht in jedem Fall zu behandlungsbedürftigen Beeinträchtigungen1.

In meinen Leben führte ich bis jetzt drei romantische Beziehungen. Die erste dauerte etwa zehn Jahre, die zweite ein halbes und die jüngste hat gerade erst begonnen.

Robin war immer sehr bemüht, meine Krankheit zu verstehen, doch vieles gelingt Robin bis heute nicht. Robin hat die Krankheit eher toleriert als wirklich verstanden. Doch das klingt jetzt härter als es gemeint ist. Die Beziehung begann bevor ich wirklich therapeutische Hilfe in Anspruch genommen habe und ich hatte viele meiner heutigen Strategien noch nicht zur Verfügung; Strategien, die ich zum Teil auch erst mit der Hilfe von Robin entwickeln konnte.

Robin hat hunderte von Stunden damit verbracht, meine Fehler zu kompensieren. Hat unzählige Mails und fast jede meiner akademischen Arbeiten korrigiert. Hat immer wieder die Dinge an den richtigen Platz geräumt und auf meinen Essrhythmus Rücksicht genommen. Für viele Dinge bin ich Robin sehr dankbar und doch kann ich heute den Ärger manchmal nicht zurückhalten. Zu oft fühlte ich, wie sehr diese Dinge für Robin eine Last waren, wenn wieder einmal wiederholt wurde, dass eine Rechtschreibregel doch schon so oft erklärt worden war oder Robin wütend nach einer Haarbürste fragte, welche ich irgendwo hingelegt hatte. Es entwickelte sich daraus mehr als nur ein Streit und es dürfte wohl einer der Gründe sein, dass wir uns nach 10 Jahren schliesslich trennten.

Ich konnte Robin meine Krankheit nie wirklich verständlich machen und das war frustrierend. Doch zeigt die Geschichte auch, welche Anforderungen ADS an die Angehörigen stellt. Wie frustrierend muss es sein, immer wieder das Gleiche tun zu müssen und dies dann auch noch bei einer Krankheit, die nicht offensichtlich ist. Wenn es darum gegangen wäre, dass Robin mir täglich geholfen hätte, eine Treppe zu überwinden, weil ich ein Rollstuhlgänger gewesen wäre – ich glaube, dies hätte unsere Beziehung viel weniger belastet. Es wäre dann klar gewesen, warum ich jedes mal Hilfe gebraucht hätte. Doch die ADS ist auf den ersten Blick unsichtbar.

Die Schwächen der ADS lassen sich kompensieren, doch sie gehen nicht weg. Eine ADS zu haben oder mit einem Menschen zusammen zu sein, welcher eine ADS hat, bedeutet genau das zu akzeptieren. Es bedeutet sehr oft, dass eine 80% Lösung das beste ist, was erreicht werden kann, und dass die Angehörigen manchmal die übrigen 20% beisteuern müssen. Es bedeutet aber auch für uns Betroffene, dass wir uns darüber klar werden müssen, wann wir diese 20% wirklich brauchen; dass wir vielleicht einfach damit leben müssen, dass Dinge manchmal nicht perfekt sind und andere diesen Mangel an Perfektion bemerken; dass wir unsere Angehörige davor schützen, die Dinge immer für uns beenden zu müssen.

Die Beziehung mit Robin ist aber nicht an all dem zerbrochen. Wir merkten irgendwann einfach, dass sich unsere Wege auseinander entwickelt hatten. Unsere Zielen waren nicht mehr dieselben und eine gemeinsame Zukunft ergab eines Tages keinen Sinn mehr. In dieser Trennungsphase, welche wohl über drei Jahre dauerte, merkte ich auch, dass ich für Menschen anders empfand als dies der Norm entsprach. Ich fühle das, was man als “Polyamorie” bezeichnet. So beschreiben sich Menschen, welche tiefe romantische Emotionen für mehrere Menschen zugleich empfinden. Es ist aber auch ein Begriff, welcher bestimmte moralische Vorstellungen beschreibt wie Beziehungen sein sollten, nämlich frei von Besitzansprüchen.

Polyamorie: Polyamorie bezeichnet ein nicht-monogames Beziehungskonzept, bei welchem eine Person mehrere romantische Beziehungen zum gleichen Zeitpunkt eingehen kann. Alle beteiligten Personen sind sich hierbei über einander im Klaren. In Abgrenzung hierzu steht das Konzept der offenen Beziehung, bei der zwei Partner mehrere sexuelle Beziehungen eingehen mögen, die Liebesbeziehung an sich allerdings monoamor bleibt2.

Im Verlauf der Trennung von Robin lernte ich Dominique kennen. In dieser kurzen aber intensiven Beziehung zeigte sich ein weiteres Problem. Ich brauche, Strukturen um zu funktionieren. Ich muss wissen, wann ich was zu tun habe und wann welcher Mensch welche Erwartungen an mich stellt. Ohne diese Strukturen kann ich meinen Alltag nicht bewältigen und eine Partnerschaft muss sich diesen Strukturen anpassen können. Dominique hatte selber Probleme. Eine Folge dieser Probleme war, dass es Dominique nicht möglich war, mir die Verbindlichkeit zu geben, die ich brauchte. Anders als bei Robin bin ich mir sicher, dass hier die ADS ein wirklich entscheidender Faktor für die Trennung war. Meine sturen Abläufe waren nicht kompatibel mit den Bedürfnissen von Dominique. Doch es zeigte sich auch etwas, das mir gut tat. Dominique konnte Dinge auch einfach mal sein lassen. Das kleine Chaos, dass ich verursachte, störte hier nicht und ich merkte, wie viel Konfliktpotential dadurch verschwand.

Irgendwann kam Sascha. Sascha wusste von Anfang an, was meine Eigenheiten waren. Ich hatte gelernt, wie eine ADS zu Problemen in meinen Beziehungen führte, und kannte auch all die anderen Koffern, die ich mit mir trug, recht gut. Bei unserem ersten Date erzählte ich daher Sascha, dass mein Abschweifen nichts mit Desinteresse zu tun hätte; dass ich mich manchmal in Gedanken verlieren würde und sehr impulsiv das Thema wechseln konnte, nur um dann sogleich wieder zum ursprünglichen Thema zurückzukehren. Was passierte, war, dass ich auf einmal nicht mehr Scham empfand zuzugeben, dass ich etwas verpasst hatte. Ich bat Sascha einfach darum, es zu wiederholen. Denn Sascha reagierte darauf, ohne dass ich eine Verärgerung spürte. Sascha wiederholte sich einfach. Die Themenwechsel waren für Sascha ebenfalls kein Problem, vielmehr machte Sascha einfach mit und sprang mit mir hin und her.

Ich fühlte mich zum ersten mal wirklich verstanden. Es dauerte aber lange, bis wir ein Paar waren. Ich hatte meine beiden vorherigen Beziehungen noch nicht verarbeitet und auch der Gedanke einer Polybeziehung war für Sascha etwas Neues, das zuerst einmal verdaut werden musste. Wir wurden deshalb Freunde, bevor wir ein Paar wurden und all die Gespräche, welche notwendig waren, um die Polyelemente zu erklären, führten zu einer Gesprächskultur, die ich vorher so nicht gekannt hatte; einem Verständnis des anderen, wann 80% einfach mal genügen mussten und wann ich darauf angewiesen war, dass Sascha die übrigen 20% übernahm.

Inzwischen lebe ich de facto mit Sascha zusammen und wir werden bald in eine gemeinsame Wohnung ziehen. Habe ich Angst davor, dann dieselben Konflikte zu erleben wie mit Robin und Dominique? Nein, denn Sascha ist es gelungen, diese Dinge zu verstehen, und mir ist es gelungen, sie Sascha zu erklären. Wenn ich noch am arbeiten bin, dann lässt mich Sascha in Ruhe. Denn Sacha weiss, dass jeder weitere Reiz nur dazu führt, dass ich mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren kann. Wenn ich die Haarbürste an den falschen Ort lege, dann fragt Sascha danach ohne einen Vorwurf in der Stimme. Ein Chaos darf auch mal ein Chaos sein und wird notfalls gemeinsam aufgeräumt oder eben einfach als das akzeptiert, was es ist: Nämlich eine andere Art, Dinge zu ordnen.

Sascha musste lernen, sich auch mal durchzusetzen und meinen Fokus zu erzwingen. Es ist nicht immer möglich, dutzende Dinge zugleich zu besprechen und selber merke ich es oftmals nicht, dass ich genau das gerade tue. Sascha versucht dann, einen klaren Fokus herzustellen, bei dem Sascha selbst nicht untergeht. Ich glaube am schwierigsten ist es für Sascha aber zu verstehen, wann man sich in emotionaler Hinsicht nicht auf mich verlassen kann. An den Tagen, an denen ich Ritalin nehme, fühle ich die Bedürfnisse von Sascha nur schwach. Ich merke nicht, wann Sascha in den Arm genommen werden will. Sascha muss Nähe und Verständnis dann explizit einfordern und für mich ist etwas, das ich in dem Moment nur abstrakt begreife. Wir werden sehen, wohin das alles führt.  

Ich habe in den vergangen Jahren letztlich gemerkt, dass Poly-Beziehungen sich auch gerade wegen meiner ADS positiv auf mein Wohlbefinden auswirken. Sie erlauben einen klaren und intensiven Fokus auf eine einzelne Person. Grenzen werden dabei ausgehandelt und explizit gemacht. Unausgesprochenes wird ausgesprochen und Emotionen können sich auch impulsiv entfalten ohne, dass sie vom Gegenüber als Bedrohung wahrgenommen werden. Poly heisst für mich auch, sehr stark im Moment mit einem einzelnen Menschen zu sein, und auch das hilft mir, meinen Fokus zu halten. Gibt es vielleicht einen Zusammenhang zwischen Polyamorie und ADS? Sind Menschen, die polyamore fühlen, nicht einfach grundsätzlich unfähig sich auf einen einzelnen Menschen einzulassen? Nur soviel soll gesagt sein: Dies ist genauso unangemessen wie zu behaupten, dass Homosexualtität nur eine Phase sei oder ein bisexueller Mensch sich einfach nicht entscheiden könne.

Hast du Fragen zum Thema ADS und (Poly)-Beziehungen? Dann kann Gina gerne den Kontakt zwischen uns herstellen.

 

 

Quellen:

„Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung“. Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivit%C3%A4tsst%C3%B6rung#Nach_ICD-10 [Letzter Aufruf: 23.03.2019]

2 „Polyamorie“.Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Polyamorie [Letzer Aufruf: 23.03.2019].

Veröffentlicht von

ginamesserli

philosophy student @ university of Zürich, wannabe vegan, coffee and tea lover and knowbetter, so basically your average philosophy student.

Ein Gedanke zu “Du bist anstrengend, aber ich mag dich”

  1. Hallo liebe…!
    In deinem Bericht schilderst du eindrücklich „deine Geschichte“ als ADS Betroffene. Ich erfahre deine stetige Auseinandersetzung mit der Problematik und du hast dir Strategien angeeignet, um dein Alltag besser zu bewältigen. Dabei erwähnst du auch die Medikation als wichtiger Stützpfeiler. Du informierst offen deine vertraute Mitwelt über deine Strukturen und dein Verhalten in bestimmten Situationen. Auch versetzt du dich in die Lage deiner Partner, was du ihnen zumutest.
    Du stellst dir die Frage: Habe ich diese Krankheit wirklich verstanden? Eine gute Frage. Ich denke, wir können lediglich die Symptomatik und deren Folgen erkennen und können die Ursache erforschen um dies verständlicher einzuordnen. Warum dies gerade mich trifft; hier bleibt das Verständnis im Verborgenen und wir müssen dies so annehmen. Oder was meinst du?
    Liebe…, hast du schon mal von Peereinsätzen gehört? Dies sind Menschen, die ihre Erfahrungen und Strategien an Gleichbetroffene weitergeben. Es gibt auch eine spezielle Ausbildung dafür.
    Vielen Dank für deinen wertvollen Bericht.
    Alles Gute und liebe Grüsse
    Viktor

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